Bayern 2 - radioTexte


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Ines Geipel im Gespräch 30 Jahre Einheit und keine geeinte Erinnerung

"Im 30. Jahr der deutschen Einheit sind Ost und West zusammengewachsen. Doch fühlen wir uns auch eins?", fragt Angela Merkel in ihrer Festschrift zum Jubiläumsjahr. Ines Geipel beantwortet die Frage in ihrem exklusiv für die radioTexte verfassten Essay mit einem klaren Nein. Zu einer gefühlten Einheit gehört eine gemeinsame Erinnerungskultur. Die Opfer der Ostdiktatur steckten bis heute in ihrem "historischen Geschlucktsein" fest. Antonio Pellegrino hat mit Ines Geipel gesprochen.

Von: Antonio Pellegrino / Kirsten Böttcher

Stand: 01.10.2020 | Archiv

Autorin Ines Geipel, 1960 in Dresden geboren, liest für die radioTexte aus ihrem Buch "Umkämpfte Zone. Mein Bruder, der Osten und der Hass" (Klett-Cotta). | Bild: Amac Garbe

Antonio Pellegrino:
"Deutsch-deutsche Echokammern im Jahr 30 der Einheit" ist der Titel Ihres Essays, den Sie für die radioTexte auch gelesen haben. Sie sind 1960 in Dresden geboren, konnten dort studieren und waren eine erfolgreiche Sportlerin. Doch die Realität sah ganz anders aus. Ihre Erlebnisse und Ihre Familiengeschichte haben Sie in Ihrem Buch "Umkämpfte Zone, mein Bruder, der Osten und der Hass" geschildert. Wie sieht denn heute Ihre Realität aus?

Ines Geipel:
Ich sitze bei Ihnen. Wir sprechen über die Einheit, wir sprechen über den Zustand des Landes. Ich darf öffentlich sein, ich darf meine Bücher schreiben. Ich darf endlich das tun, was ich als junge Frau vorhatte. Und das heißt, ich bin sehr glücklich in diesem Leben.

Antonio Pellegrino:
Sie sind kurz vor dem Fall der Mauer 1989 aus der DDR geflohen. Was war der Anlass?

Ines Geipel:
lch konnte nicht promovieren. Ich hätte Friedhofsgärtnerin oder Blumenverkäuferin werden können. Das ist alles völlig in Ordnung. Aber ich wollte tatsächlich etwas anderes. Ich hatte Ärger im Studium, politischen Ärger. Und dann war einfach klar: Das halte ich nicht mehr aus.

Antonio Pellegrino:
Obwohl Sie eine erfolgreiche Sportlerin waren? Wir wissen, es gibt ja ein berühmtes Vorbild, eine berühmte Sportlerin, die von der DDR hofiert wurde und später dann auch im Westen eine ziemlich erfolgreiche Karriere hingelegt hat.

Ines Geipel:
Es gab natürlich auch schon den Bruch im Sport. Ich bin verbannt worden, auch aus politischen Gründen. Die Staatssicherheit wusste, dass ich fliehen wollte - in Los Angeles während der Olympischen Spiele. Und es gab dann schon ziemlich geharnischte Konflikte, immer wieder Tribunale und dann kam der Endpunkt: Raus aus dem Sport. Ich hatte auch nicht viele Gründe, den DDR-Sport hochzusingen, auch danach nicht. Und die eigentliche Geschichte des DDR-Sports, das haben wir alle miteinander erst sehr viel später in den Akten gefunden: Das große Staatsgeheimnis: männliche Steroide an 15.000 ehemaligen Athletinnen und Athleten! Der Schaden des Ganzen liegt erst heute auf dem Tisch. Wir wissen danach sehr viel mehr als das, was in einem Einschluss uns gelebt hat.

Kurz und knapp

Ines Geipel, 1960 in Dresden geboren, war zu DDR-Zeiten Weltklasse-Sprinterin. 1989 floh sie nach Westdeutschland, studierte Philosophie und Soziologie. Heute ist sie Schriftstellerin, Professorin an der Berliner Hochschule für Schauspielkunst "Ernst Busch" und publiziert immer wieder zu Themen wie Amok, Geschichte des Ostens und brisanten Nachwendethemen. Ines Geipel hat darüberhinaus das "Archiv der unterdrückten Literatur der DDR" aufgebaut und vielfach dazu veröffentlicht. Zuletzt erschien ihr Buch "Umkämpfte Zone. Mein Bruder, der Osten und der Hass" (Klett-Cotta). 2011 wurde sie wegen ihres Engagements für in der DDR unterdrückte Literatur und für ihre Aufarbeitung des DDR-Zwangsdoping-Systems samt Entschädigung der Doping-Opfer mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet.

"Es gibt ein Doppel-Gedächtnis"

"16 Jahre (nach Kriegsende) war geputzt, geschwiegen, umgeschrieben worden. Statt gemeinsamer Schuldgeschichte eine geteilte Geografie, zwei gegensätzliche politische Systeme, geteiltes Leben, zwei getrennte Gesellschaften und Kulturen. Doch die Belastungen der Geschichte blieben Ost wie West als Phantomgeschichte im Raum. Die Opfer der ersten Diktatur waren tot oder zutiefst traumatisiert. Die, die überlebt hatten, waren still. Würden sie es bleiben? Das Weiterleben hatte die Erinnerungen überdeckt, aber musste die deutsche Geschichtskrypta nicht zwangsläufig irgendwann aufbrechen? Wann? Nach 20, 30, nach 50 Jahren? Und was sollte aus dem Land werden, wenn es irgendwann wieder ein ganzes Gedächtnis haben durfte?"

(Ines Geipel, Deutsch-deutsche Echokammern)

Antonio Pellegrino:
Sie sprechen in Ihrem Essay von der "Krypta der Geschichte". Damit meinen Sie nicht nur die Geschichtskypta der DDR, sondern auch die der Bundesrepublik.

Ines Geipel:
Ja, wenn wir jetzt 30 Jahre Einheit feiern, gibt es ja klar ein Doppel-Gedächtnis. Und wir wissen, es hat natürlich auch nach 1945 im Westen ein langes Schweigen gegeben. Und  meine Sorge im Hinblick auf diese 30 Jahre ist, dass es so nicht weiter gehen kann mit dieser Art von Verdrängung der sehr harten Diktatur-Geschichte des Ostens, weil es ganz zwangsläufig dadurch eine historische Unwucht gibt, die im Osten zu einem massiven Rechtsruck geführt hat. Wenn wir die Geschichte nicht haben, sind wir verurteilt zur Wiederholung. Das ist eine Binse, und insofern, glaube ich, könnte das Einheits-Geschenk des Ostens auch sein, sich aus der eigenen Verdrängungsgeschichte herauszuarbeiten.

Opferlandschaften in West und Ost

Antonio Pellegrino:
In Ihrem Text sprechen Sie über die Opfer, die Opfer der beiden Diktaturen, der Nazi-Diktatur und die der DDR-Diktatur. Fühlen sich heute die Bürger im Osten als Opfer?

Ines Geipel:
Dieser Begriff ist natürlich mehrfach besetzt. Es gibt eine internalisierte Opfer-Existenz. Das hat auch mit dem roten Antifaschismus zu tun. Es darf natürlich nicht passieren, dass die Opfer des Nationalsozialismus in irgendeiner Form relativiert werden. Nein, das ist überhaupt nicht meine Rede. Aber es kann natürlich auch nicht sein, dass es eine Kategorisierung von Opfern gibt. Schmerz ist Schmerz, Gewalt ist Gewalt. Und wenn wir drei Millionen Opfer haben im Hinblick auf die ehemalige DDR, dann brauchen sie Aufmerksamkeit, Schutz und die Möglichkeit, zu ihrer eigenen Erzählung zu kommen.

Verantwortung gegenüber der eigenen Historie

"Die 68er des Westens fanden zu ihrer Identität, in dem sie die gemordeten europäischen Juden im Sinne einer Gegenidentifizierung im Hinblick auf ihre Eltern als Opfer anerkannten und ihre Rehabilitierung durchsetzten. Die drei jungen Generationen in Ostdeutschland, die ohne Diktaturerfahrung sozialisiert wurden und sich heute so vehement ein Land ohne Geschichte, ohne Schuld, ohne Kontinuitäten imaginieren. Das gelobte Land heißt Osten, gemeint ist die DDR. Was ist die innere Geschichte dieser drei Generationen?"

(Ines Geipel, Deutsch-deutsche Echokammern)

Antonio Pellegrino:
Die junge Generation, die nach dem Fall der Mauer geboren wurde. Ist sie angekommen im vereinten Deutschland?

Ines Geipel:
Wir haben ja viele Jahre angenommen, dass die gar kein Thema mehr ist. 30 Jahre ist ein unglaublicher Zeitraum, und wir spüren aber insbesondere nach 2015, dass die jüngere Generation auf einmal so ein Ost-Bewusstsein entwickelt und junge Leute sich als Ostdeutsche bezeichnen. Das ist ja völlig in Ordnung. Aber es funktioniert natürlich nicht, wenn sich gerade die jüngeren Generationen Ostdeutschland als historisch weißes Blatt, als unbeschriebenes Blatt vorstellt, weil man im Grunde Angst hat, es in irgendeiner Weise mit der Schuld der älteren Generation zu tun zu bekommen. Man kann diese Angst verstehen, und man muss ihnen sagen: Ihr habt keine Schuld, aber ihr habt eine Verantwortung auch für die ostdeutsche Historie.

"Deutsch-deutsche Echokammern im Jahr 30 der Einheit"


von und mit Ines Geipel

am Samstag, 3. Oktober 2020 um 14.30 Uhr in den radioTexten am Feiertag auf Bayern2

Lesung: Hemma Michel

Moderation und Redaktion: Antonio Pellegrino

Unsere Lesungen können Sie immer und überall nachhören: auf dieser Seite im Stream, als Download im Podcast-Center des Bayerischen Rundfunks und überall, wo es Podcasts gibt.

 

 


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