Bayern 2 - Das Kalenderblatt


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12. Mai 1971 Zum ersten Mal liest im Fernsehen der BRD eine Frau die Nachrichten

Es gab eine Zeit im deutschen Fernsehen, da galt es als gewagt und geradezu frivol, eine Frau die Nachrichten lesen zu lassen. Eine Frau konnte unmöglich genug Sachlichkeit und ausreichend Contenance haben für all die dramatischen Neuigkeiten aus der ganzen Welt. Oder doch? Autorin: Anja Mösing

Stand: 12.05.2022 | Archiv

12 Mai

Donnerstag, 12. Mai 2022

Autor(in): Anja Mösing

Sprecher(in): Irina Wanka

Illustration: Tobias Kubald

Redaktion: Susi Weichselbaumer

Du lieber Himmel! War es damals wirklich so ein großes Ding?
1971! Das Jahr, in dem schon die erste U-Bahn-Linie in München eröffnet wurde. Nur zum Beispiel. Und in so einem"modernen" Jahr soll es noch geradezu "frivol" gewesen sein, eine Frau im westdeutschen Fernsehen zu zeigen, wie sie: naja, die Nachrichten spricht?Unglaublich! Was passierte denn da schon groß, am 12. Mai 1971 um 22:14 Uhr?

Frau im Studio?!?!

Da war im Fernsehen eine Frau zu sehen, die hinter einem Tisch auf einem Stuhl sitzt und gut verständlich vorliest, was auf bedruckten DINA 4 Bögen in ihren Händen geschrieben steht. Mehr war nicht. Aber: Sie war eben ganz deutlich eine Frau, die Wibke Bruhns. Hinter ihr, an der Studiowand, hing das damals hochmoderne Logo des Zweiten Deutschen Fernsehens: diese beiden dunklen Balken der römischen Zwei, die mitten hinein ragten in zwei metallene, sich überschneidende Ovale. Schulkinder erinnerte dieses Logo ja immer so ein bisschen an Mengenlehre, die im Matheunterricht der 70er so beliebt war. Und dass Wibke Bruhns an diesem Abend ausgerechnet die heute-Nachrichten vorlas, gefiel den Chefs dieses erst wenige Jahre jungen Senders total!

Jawohl, eine Frau!

Keine 14 Tage zuvor hatten sie ihren Coup abends bei ein paar Bier, in einer Wirtschaft, in Wiesbaden ausbaldowert: Sie wollten ihren Kollegen aus der ARD noch schnell zuvorkommen. Die verantworteten auch damals schon das Erste Deutsche Fernsehprogramm. Und es war durchgesickert, dass man dort von langer Hand plante, die erste weibliche Nachrichtensprecherin Westdeutschlands auf den Bildschirm zu bringen.

Denen stehlen wir die Show! - War die Idee der ZDF-Macher in Wiesbaden. Und weil die Journalistin Wibke Bruhns zufällig in der abendlichen Herrenrunde dabei war, fiel die Wahl auf sie. Bruhns hatte in Wiesbaden gerade wieder einen Film fürs ZDF-Programm abgeliefert. Seit 10 Jahren arbeitete sie in Hamburg als Journalistin, hatte studiert und war als Moderatorin oft im Funk zu hören und im Fernsehen zu sehen.

Inzwischen war Wibke Bruhns 32, hatte zwei kleine Töchter und immer Lust auf neue Aufgaben! Warum also nicht Nachrichten im Fernsehen sprechen? Da sie sonst ihre eigenen Texte schrieb und auch vor der Kamera sprach, schien Wibke Bruhns die neue Aufgabe ein vergleichsweise leichter Job zu sein. Geschrieben wurden ihr die Nachrichten von den Kollegen in der Nachrichtenredaktion.

Aber eine Frau als Nachrichtensprecherin heißt: Eine Frau informiert über Politik. In einer Zeit, als selbst im Bundestag nur eine einzige Frau saß, war das zu viel für die Nerven vieler Fernsehzuschauer und Zuschauerinnen! Bergeweise schickten sie der Redaktion Briefe voll fantasievollster Beschimpfungen und Anzüglichkeiten bis hin zu echtem Kot im Paket. Alles mit dem Ziel, die Frau wieder weg vom Nachrichtenstuhl zu bekommen. Aus der DDR, wo Anne-Rose Neumann schon seit 1963 Nachrichten im Fernsehen vorlas, sind solche Peinlichkeiten nicht bekannt. Auch Bruhns wurde es schnell zu dumm, aber sie hielt noch ein Jahr durch. Dann berichtete sie als Korrespondentin aus Israel und später aus den USA - und traf führende Politiker aus aller Welt. In der Hauptsache Männer.


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