Bayern 2 - Das Kalenderblatt


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8. Juli 1892 Verräterische Rillen: Fingerabdrücke überführen erstmals eine Mörderin

Ein Fingerabdruck ist einzigartig. Selbst eineiige Zwillinge haben unterschiedliche Fingerabdrücke. Fingerabdrücke sind zum festen Bestandteil der Kriminalistik geworden. Zum ersten Mal 1892. Inspektor Alvarez sägte damals einen Fingerabdruck aus dem Fensterstock. Autor: Simon Demmelhuber

Stand: 08.07.2021 | Archiv

08.07.1892: Verräterische Rillen: Fingerabdrücke überführen erstmals eine Mörderin

08 Juli

Donnerstag, 08. Juli 2021

Autor(in): Simon Demmelhuber

Sprecher(in): Christian Baumann

Illustration: Tobias Kubald

Redaktion: Frank Halbach / Susi Weichselbaumer

Rufen, Schreien, Poltern, Betteln, alles umsonst. Francisca Rojas macht nicht auf. Aber Ponciano weiß, dass seine Frau da ist. Und sie weiß, warum er gekommen ist, er hat es ihr gesagt: Sie wird ihm nie wieder Hörner aufsetzen. Er hat genug von ihren Eskapaden und holt die Kinder weg, auch wenn er die Tür einschlagen muss.

Verdächtiger mit Alibi

Ein Tritt, Holz splittert, dann leert jemand die Zeit aus. Ponciano findet seine Frau reglos auf dem Küchenboden und im Schlafzimmer nebenan seine Kinder. Für den Buben und das Mädchen kommt jede Hilfe zu spät. Aber Francisca lebt und erzählt, was passiert ist: Dass Ramón Velázquez, ein Nachbar, ihr schon lange heimlich nachstellte, dass er plötzlich in der Küche stand und zudringlich wurde, wie sie ihn angewidert abblitzen ließ und er dann in blinder Wut auf sie einschlug und die Geschwister erstach.

Velázquez streitet alles ab, knickt auch nach tagelangen, brutalen Verhören nicht ein. Die Polizei der Küstenstadt Necochea in Argentinien steckt fest. Da müssen Spezialisten ran, am besten Fahnder der Mordkommission in La Plata. Knapp eine Woche nach dem Verbrechen übernimmt Eduardo Alvarez den Fall. Der erfahrene Ermittler stößt rasch auf Ungereimtheiten: Zum einen hat Velázquez für die Tatzeit ein wasserdichtes Alibi. Scharf ins Gebet genommen, verheddert sich Francisca Rojas in widersprüchlichen Aussagen, außerdem passen ihre Verletzungen nicht zur Schilderung des Hergangs. Und dann das mit der Tür und den Fenstern: Mehrere Zeugen bestätigen, dass die Hütte von innen verriegelt war, als Ponciano eindrang. Der Mörder muss also noch drin gewesen sein.

Der Fingerabdruck

Bleibt nur eine Erklärung: Francisca Rojas war es selbst. Inspektor Alvarez ist sich seiner Sache sicher. Aber er braucht Beweise, die eine Anklage rechtfertigen und vor Gericht bestehen. Vielleicht hilft ihm ja diese Marotte weiter, die sein Chef in La Plata neuerdings pflegt. Geht es nach dem Boss, soll die argentinische Polizei künftig Fingerabdrücke sammeln, um Übeltäter zu fassen. Erprobt hat das noch niemand, aber angeblich sind die Hautlinien der Fingerbeeren so einzigartig, dass keine zwei Menschen dieselben Rillen, Bögen, Schleifen, Gabelungen und Wirbel teilen.

Einen Versuch ist die Sache wert. Der Inspektor nimmt sich die Hütte nochmals gründlich vor und findet etwas, das er bislang übersehen hat: einen eingetrockneten, braunen Fleck am Fensterstock. Blut! Und darin, gestochen scharf, der Abdruck eines Daumens. Alvarez sägt das Beweisstück kurzerhand aus, sichert die Fingerabdrücke aller Beteiligten und vergleicht sie mit der Spur vom Tatort.

Kein Zweifel! Es ist Franciscas Daumen. Unter der Wucht des Offensichtlichen gesteht sie am 8. Juli 1892 den Doppelmord. Ja, es stimmt! Sie war verzweifelt, wusste nicht mehr ein noch aus, wollte eher mit den Kindern sterben als von ihnen getrennt sein. Dass sie überlebt, war nicht geplant. Und schon gar nicht, dass erstmals in der Kriminalgeschichte allein der Abdruck eines Fingers den Täter überführt.


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