Bayern 2 - Das Kalenderblatt


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5. Januar 1974 Pina Bausch gründet das Tanztheater Wuppertal neu

Pina Bausch revolutionierte das Tanztheater. Ihre Arbeiten am "Wuppertaler Tanztheater" machten sie zur Kultfigur der internationalen Tanzszene und zur bedeutendsten Choreografin ihrer Zeit. Autorin: Katharina Hübel

Stand: 05.01.2021 | Archiv

05 Januar

Dienstag, 05. Januar 2021

Autor(in): Katharina Hübel

Sprecher(in): Ilse Neubauer

Illustration: Tobias Kubald

Redaktion: Frank Halbach

Beschützt von Bodyguards ins Theater – so gehen Hollywoodschauspieler, Popstars oder auch Präsidenten aus. Selbst bei der Grillparty im Garten steht irgendwo diskret ein Mann im Anzug, der hinter seiner schwarzen Brille die Umgebung nach Gefahren abscannt, während Heidi Klum oder Angela Merkel sorglos ihre Würstchen wenden. Alltag eben. Für einen Berufsprominenten.

Radikal neu

Doch für eine unbekannte junge Frau, die im Wirtshaus ihrer Eltern in Solingen aufgewachsen ist, dort regelmäßig die Teller abgeräumt und die Betten aufgeschüttelt hat, ist das kein Szenario, auf das sie je gefasst gewesen wäre. Auf den Fliegeralarm im zweiten Weltkrieg – ja. Ein kleiner schwarzer Rucksack mit weißen Pünktchen stand für sie als Kind stets gepackt – eine Puppe schaute oben wachsam raus. Aber auf Personenschutz im Theater, darauf hatte sie keiner vorbereitet. Nach dem 5. Januar 1974 war aber genau das für Pina Bausch erstmal nötig. Sie war die neue Direktorin eines Balletts in der Provinz – und zeigte mit ihrem ersten Stück "Fritz", eine so radikal neue Form des Tanzes auf der Bühne, dass das Publikum schockiert reagierte.

Selbst die Umbenennung des Balletts in "Wuppertaler Tanztheater" besänftigte das stark konservative Publikum nicht. Es wollte Spitzentanz sehen, elfengleiche Ballerinen in Tütüs. Es bekam: Ballett-Tänzer, die in einem weißen Unterhemd hüstelnd über die Bühne humpelten. Tänzer, die sangen, sprachen und schrien. Einen musikalisch wilden Mix aus Folklore, Klassik, Schlagern und Gassenhauern vom Band – anstatt des gepflegten dramatischen Tschaikowskys aus dem Orchestergraben. Verwelktes Laub, das auf der Bühne liegt und bei jedem Schritt der Tänzer raschelt. Echter Torfboden, der die hellen Seidenkleider im Verlauf des Stückes immer mehr einmatscht, klümpchenweise in den wirren, offenen Haaren hängt. Echtes Wasser, das die Kostüme der Tänzer am Leib kleben lässt. Ein Hund, der gemütlich vor sich hin frisst. Eine Ziegel-Mauer, die umfällt, und über die die Tänzerinnen in ihren Stöckelschuhen rennen müssen.

Aufbewahrte Gesichter

Provozieren wollte Pina Bausch mit ihren Stücken nie. Auf der Folkwang-Schule in Essen hatte sie bei dem Choreographen Kurt Joos eine neue Art zu tanzen und Tanz zu denken gelernt. Was möchtest Du aussagen? Das war wichtiger als eine vorgeschriebene Form. Und so fand Pina Bausch neue Formen. Sie suchte Tänzerpersönlichkeiten, denen sie keine Schritte mehr vorschreiben wollte.

Sie konfrontierte sie vielmehr durch Fragen mit ihrer Kindheit, ihren Gefühlen, ihrem Schmerz und ihrer Freude. Sie wollte Antworten von ihnen: Diese konnten getanzt sein, ein Wort, ein Lied, eine Geste, eine Idee. Antworten, aus denen sie kunstvolle Stücke kreierte. Viele Tänzer blieben Pina Bausch ein Leben lang treu, reisten mit ihr um die ganze Welt und kehrten doch immer wieder nach Wuppertal zurück. Pina Bausch liebte Wuppertal mit seinem Industriecharme und der Schwebebahn, weil es eine Alltags- und keine Sonntagsstadt war. Eine Stadt voller trauriger und müder Arbeitergesichter, die Pina Bausch in ihren Stücken aufbewahren wollte. Für diese Mission nahm sie ziemlich viel in Kauf. Sogar vier Bodyguards, die sie zu ihren eigenen Aufführungen anfangs begleiteten mussten.


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