Bayern 2 - Das Kalenderblatt


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25. August 1953 Patient Gedächtnis aus Schädel gesaugt

Als Patient H.M. wird Henry Molaison zum bestuntersuchten Menschen der Gedächtnisforschung. Nach einer Teilentfernung seines Gehirns ist der US-Amerikaner nicht mehr in der Lage, neue Erinnerungen anzulegen. Er verbringt sein restliches Leben in einem dauerhaften "Jetzt" - und erwacht jeden Morgen als 27-Jähriger. Autorin: Prisca Straub

Stand: 25.08.2023 | Archiv

25 August

Freitag, 25. August 2023

Autor(in): Prisca Straub

Sprecher(in): Johannes Hitzelberger

Redaktion: Frank Halbach

Die Operation besteht nur aus ein paar wenigen Handgriffen. Mancher mag sich das vielleicht gar nicht so genau vorstellen: Ein großzügiger Schnitt einmal quer über den Schädel, dann wird dem 27-Jährigen die Stirnhaut über die Augen geklappt. Eine schmerzlose Prozedur dank örtlicher Betäubung, doch Henry Molaison ist bei vollem Bewusstsein: ein schrilles Dröhnen, als ihm ein Knochenbohrer oberhalb der Augen zwei Löcher in den Schädel fräst. Dann durchtrennt der Operateur die Hirnhäute, stemmt die Stirnlappen zur Seite, arbeitet sich vor zu den beiden Schläfen. Mit einem gurgelnden Geräusch verschwinden links und rechts Henrys Hippocampus und seine Amygdala im Absaugkatheter - weiche, rosafarbene Strukturen. Am 25. August 1953 wird aus Henry Molaison der Patient mit den Initialen H.M. Unwiderruflich und für den Rest seines Lebens.

Die Mediziner vom Hartford Hospital im US-Bundesstaat Connecticut haben so gut wie keine Ahnung, welche Funktion die Hirnteile haben, die sie bei ihrer "experimentellen Operation" vernichtet haben. Doch der junge Patient leide schließlich an einer schweren Form der Epilepsie. Anfälle, mehrmals am Tag! An ein normales Leben sei ja nicht zu denken! Von dem Eingriff verspricht man sich Linderung. Insofern sei die Operation erfolgreich verlaufen, so heißt es. Doch der Preis dafür - stellt sich nun heraus - ist der Verlust des Kurzzeitgedächtnisses.

Gefangen im Jetzt

Patient H.M. kann sich keine ärztliche Anweisung mehr merken. Er erkennt die Gesichter des Pflegepersonals nicht wieder und hat keine Ahnung, warum er sich in einer Klinik aufhält. Der Eingriff hat zwar die Epilepsie beseitigt, doch H.M. erwacht jetzt jeden Morgen in einer ihm völlig fremden Welt. Zwar kann er an Gesprächen teilnehmen, sich die Zähne putzen und ein Radio bedienen.
Doch: Neue Informationen für länger als ein paar Minuten zu speichern, dazu ist er nicht mehr in der Lage. Das Leben ist für ihn - stehen geblieben.

Unvergesslicher Patient

Die spektakuläre Fallgeschichte weckt prompt Begehrlichkeiten: Zu Hunderten bewerben sich Gedächtnisforscher um Zugang zu dem ungewöhnlichen Studienobjekt. Wer das Privileg hat, nach Hartford vorgelassen zu werden, darf mit dem Patienten zeichnen, rechnen, Wörter sortieren und Irrgärten erkunden. - Und H.M.? Jahrzehntelang lässt er unzählige Untersuchungen über sich ergehen. Klaglos, höflich und kooperativ, wenn auch eigentümlich abgestumpft und verlangsamt. Weil er sich nicht erinnern kann, ist jede Testreihe neu für ihn. - Noch mit 82 - am Ende seines Lebens, wird er davon ausgehen, es sei 1953 und er: 27 Jahre alt.

Nach seinem Tod drücken die Forschenden ihr Bedauern aus: Der Patient sei leider nicht der Lage gewesen, seine "einzigartige Bedeutung für die Wissenschaft" zu erkennen. Eine vage Ahnung hatte Henry Molaison aber durchaus hin und wieder beschlichen: "Ich glaube, ich hatte eine Operation oder so …"


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