Bayern 2 - Das Kalenderblatt


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14. September 1752 In England kommen elf Tage spurlos abhanden

Wer hat an der Uhr gedreht? Manchmal vergehen Stunden wie im Fluge. Aber ganze elf Tage wie am 14. September 1752 in England? Autor: Simon Demmelhuber

Stand: 14.09.2018 | Archiv

14 September

Freitag, 14. September 2018

Autor(in): Simon Demmelhuber

Sprecher(in): Caroline Ebner

Illustration: Tobias Kubald

Redaktion: Susi Weichselbaumer

Ach, die Zeit! Die tut nur so erwachsen. In Wirklichkeit ist sie ein launischer, bockiger Wechselbalg: Sie fliegt, sie trödelt, hetzt, schleicht, plätschert, stockt; sie springt oder kriecht nach Lust und Laune, aufgesprengt in Aber Milliarden anarchische Menschenzeiten.

Er kam, sah und machte den Kalender

Was für ein Kuddelmuddel, was für ein Durcheinander! Da muss System rein, Zeitzucht muss her! Viele versuchen, das Chaos zu bändigen. Aber nur Cäsar schafft es. 46 vor Christus kanalisiert er den Zeitstrom durch einen Kalender, der fortan seinen Namen trägt. Damit ist Staat zu machen. Damit lässt sich verwalten, besteuern, Krieg führen, Geschichte schreiben. Das sehen die Bischöfe des Konzils von Nicäa genauso. 325 übernehmen sie den julianischen Kalender als Zeitgerüst der Heilsgeschichte und zur Berechnung des Osterfestes.

Endlich Ordnung in urbi et orbi! Die Sache hat nur einen winzigen Haken: Cäsars Kalender misst dem Jahr 365 Tage und sechs Stunden zu. Das astronomische Jahr ist aber kürzer: Mit 365 Tagen, 5 Stunden, 49 Minuten hinkt es dem Kalender jährlich elf Minuten hinterdrein. Kein großes Ding. Jedenfalls nicht gleich. Doch im Lauf der Jahrhunderte läppern sich die überzähligen Kalenderminuten. Um 1500 ist die Zeitbuchhaltung dem Himmelsgeschehen schon zehn Tage voraus. Die beweglichen Feiertage schwimmen, vor allem Ostern eiert gewaltig. Wie soll man auch zuverlässig errechnen, auf welchen Tag das höchste Kirchenfest fällt, wenn der astronomische Frühlingsbeginn anderthalb Wochen vor dem kalendarischen liegt?

British Time Warp

1582 macht Papst Gregor XIII. dem Zeitschlamassel ein Ende. Der Statthalter Christi tilgt die Überschusstage und befiehlt der Christenheit, in diesem Jahr vom 4. sogleich auf den 15. Oktober zu springen.

Die katholischen Länder fügen sich der päpstlichen Reform, die protestantischen verweigern den Kalendergehorsam. Mit am längsten, exakt 170 Jahre lang, sperrt sich England gegen das römische Zeitdiktat. Die britische Kalenderhoheit ist teuer erkauft: Das Zeitmanagement im Handel mit dem Kontinent wird immer verzwickter, das Jonglieren mit unterschiedlich datierten Verträgen, Fälligkeiten, Zahlungs-, Liefer-, Markt- und Messterminen entgleist mehr und mehr. Am Ende siegt purer Pragmatismus, das Parlament befiehlt den kollektiven Kalendersprung: elf Tage müssen weg, dazu soll auf Mittwoch den 2. nahtlos Donnerstag der 14. September 1752 folgen.

Die Reformer haben ihre Rechnung jedoch ohne den Wirt gemacht. Das Volk geht auf die Barrikaden, in den Straßen bricht der Aufruhr los. Bauern und Handwerker rebellieren, randalieren, revoltieren. Sie beklagen den Verlust elf gestohlener Lebenstage, sind von apokalyptischen Ängsten geschüttelt, bangen um ihr Seelenheil, fürchten finanzielle Schäden. Der Mob rast: Häuser brennen, Menschen sterben, Bürgerkrieg droht.

Stopp! Halt! Fake News! Die Kalenderrebellion ist ein Mythos, eine 250 Jahre lang blind nachgeplapperte Legende, der Wildwuchs einer für wahr gehaltenen Zeitsatire. Tatsächlich verläuft der Wechsel völlig reibungslos. Von Tumult keine Spur. Niemand hat 1752 verlorene Tage bejammert. Das geht nur uns so. Jedes Jahr wieder. Immer nach den Ferien eint uns ein herzzerreißender Klageruf: "Her mit der gestohlenen Zeit. Gebt uns die verschwundenen Urlaubstage wieder!"


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