Bayern 2 - Das Kalenderblatt


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5. Juli 1922 Der "Nansen-Pass" wird eingeführt

Staatenlos, nirgendwo hingehören und auch nirgendwo bleiben können – für Flüchtlinge zu allen Zeiten ein Problem. Fridtjof Nansen löst es, indem er einen ganz besonderen Pass einführt. Autorin: Julia Devlin

Stand: 05.07.2019 | Archiv

05 Juli

Freitag, 05. Juli 2019

Autor(in): Julia Devlin

Sprecher(in): Ilse Neubauer

Illustration: Tobias Kubald

Redaktion: Susi Weichselbaumer

Was haben Igor Stravinsky, Aristoteles Onassis und Marc Chagall gemeinsam? Dass man immer überlegen muss, wie man ihren Namen richtig schreibt? Okay, war ein netter Versuch. Aber die richtige Antwort lautet: Sie waren alle einmal Inhaber eines Nansen-Passes.

Bitte ausweisen!

Flüchtlinge gab es ja schon immer. Und eines der Probleme, die Flüchtlinge haben, ist ohne gültige Papiere zu sein. Das erlebten auch die Menschen, die vor Revolution und Bürgerkrieg aus Russland geflohen waren. Als ob ein Leben im Exil nicht genug Schwierigkeiten bot, entschied Lenin im Jahre 1921, allen im Ausland lebenden Russen die Staatsbürgerschaft zu entziehen. Eine Million Menschen wurden mit einem Federstrich vom Russen zum Staatenlosen degradiert. Kein mächtiger Staat mehr, der sie als seine Landeskinder anerkannte, keine wortgewandten Diplomaten, die sich für ihr Wohlergehen einsetzten. Geschützt von niemandem, gewünscht von niemandem. Denn auf einen Schlag waren ihre persönlichen Papiere wertlos geworden. Und was ist ein Mensch ohne Papiere? Ein Mensch braucht Papiere, um glaubhaft zu machen, dass er ein Mensch ist, ein Mensch, der ein Dach über dem Kopf braucht, etwas zu essen, eine Arbeit, medizinische Versorgung.

Papiere bitte!

Da nahm sich Fridtjof Nansen des Problems an. Der berühmte Polarforscher war vom Völkerbund damit beauftragt worden, sich um die gestrandeten Russen beziehungsweise nun Nicht-mehr-Russen zu kümmern. Seine Vision war es, die Menschen mit Ausweisen auszustatten, auch wenn sie keine Staatsangehörigkeit besaßen. Durch sein Bemühen wurde am 5. Juli 1922 in Genf ein internationales Abkommen über diesen "Staatenlos-Pass" geschlossen, der bald nur noch "Nansen-Pass" hieß. Er wurde von den Behörden des Staates ausgestellt, in dem der Flüchtling sich aufhielt und erlaubte ihm die Rückkehr dorthin.

Er war kein machtvolles Dokument, keinesfalls ebenbürtig den normalen Papieren normaler Staatsangehöriger, immer nur ein Jahr gültig. Zu Beginn war er lediglich von 31 Staaten anerkannt, was das Einreisen in andere als diese 31 erschwerte oder gar unmöglich machte. Staaten mögen keine Staatenlosen. Der Schriftsteller Vladimir Nabokov, auch er zeitweise Inhaber eines Nansen-Passes, ätzte daher in seinen Erinnerungen, es sei ein minderwertiger Ausweis, was sich an seinem kränklich-grünen Papier zeige, und man werde damit wie ein Verbrecher auf Freigang behandelt.

Doch es war ein Anfang, und der war dringend nötig gewesen. Denn Flüchtlinge gab es auch damals schon immer, und so wurde die Empfängerliste des Nansen-Passes mit jeder Krise, die kam, ständig aktualisiert. So um die Flüchtlinge aus Kleinasien - auf diese Weise kam Aristoteles Onassis zu seinem Nansen-Pass. Um die Armenier. Um die Menschen aus den Gebieten der zerbröselten Doppelmonarchie Österreich-Ungarn. Um die Saarländer.

Nansen erhielt für seine Bemühungen um die Flüchtlingspolitik 1922 den Friedensnobelpreis. Doch ein größeres Denkmal hat er in den Herzen zahlloser Heimatloser gefunden, die mit Hilfe seines provisorischen Ausweisdokumentes ein Stück ihrer Menschenwürde zurückbekamen.


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