Bayern 2 - Das Kalenderblatt


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17. Oktober 1814 Bierflut in London

Zu viel Bier gefährdet Menschenleben. Die Wenigsten denken dabei aber an eine so direkte Wirkung: In London platzte 1814 ein Bierfass mit über 610.000 Litern Bier, was weitere Fässer bersten ließ: Über 1.470.000 Liter Bier strömten in die Straßen, zerstörte zwei Häuser und kostete acht Menschenleben. Autorin: Ulrike Rückert

Stand: 17.10.2023 | Archiv

17 Oktober

Dienstag, 17. Oktober 2023

Autor(in): Ulrike Rückert

Sprecher(in): Hans-Jürgen Stockerl

Redaktion: Frank Halbach

Um halb fünf Uhr nachmittags entdeckte George Crick, dass sich an einem der sieben Meter hohen Porterfässer ein Reifen gelöst hatte. Das war kein Grund zur Aufregung. Er war schon lange Lagerverwalter der Hufeisen-Bräu in der Tottenham Court Road, und so etwas kam nicht zum ersten Mal vor. Das Fass hatte noch einundzwanzig intakte Reifen.

Porter war DAS Londoner Bier, stark und dunkelbraun. Ein Dutzend Großbrauereien produzierten es in ungeheuren Mengen. Es reifte monatelang in kolossalen Eichenfässern, und die Brauer übertrumpften sich gegenseitig mit deren Größe. Einmal wurde eins mit einem Bankett für zweihundert Gäste eingeweiht - im Innern des Fasses. Die Porterfässer von London waren eine Sehenswürdigkeit.

Der große Knall

Das Fass, an dem George Crick am 17. Oktober 1814 die Panne bemerkte, war da von vergleichsweise bescheidenem Format. Er ging in sein Büro und schrieb eine Nachricht an einen der Direktoren.
In der Wirtschaft "Wappen von Tavistock" schrubbte um diese Zeit die vierzehnjährige Magd Eleanor Töpfe an der Wasserpumpe im Hof, der an die Hufeisen-Bräu grenzte. An zwei Seiten knäulten sich die Gassen des Slums von St. Giles um die Brauerei. In dieser ärmsten und verrufensten Ecke von London hausten mehrere Familien in einer Wohnung, und selbst die Keller waren mit Menschen vollgestopft. In einem Haus gleich hinter der Brauerei kochte Mary Banfield gerade Tee für ihre kleine Tochter Hannah.
Dann knallte es. Das Fass mit dem losen Reifen flog in die Luft. Die Explosion sprengte die hintere Wand der Lagerhalle und ein Stück des Daches weg. Trümmer schlugen ein Leck in ein anderes Riesenfass und krachten auf die baufälligen Nachbarhäuser.
Eine meterhohe Flutwelle schoss in die engen Gassen. Die Hofmauer des "Wappen von Tavistock" brach zusammen und erschlug Eleanor an der Wasserpumpe. Zwei Häuser stürzten ein. Ein Bierschwall brach in Mary Banfields Küche herein, riss sie mit sich hinaus und schmetterte Hannah gegen eine Wand. Noch einige Straßen weiter warf das strömende Bier Passanten von den Füßen.

Morbider Reiz der Bierflut

Helfer eilten herbei und suchten in den Ruinen und vollgelaufenen Kellern nach Opfern. Sie retteten Mary Banfield, aber ihre Tochter war tot. Acht Särge waren am nächsten Tag in Wirtschaften aufgebahrt, drei davon in Kindergröße. Die Bewohner des Viertels pilgerten vorbei und spendeten einen Penny für die Beerdigungen. Aus der ganzen Stadt kamen Neugierige in Scharen, um den Schauplatz des Unglücks zu besichtigen.

"Ich war immer der festen Überzeugung, dass die vielen Brauereien in dieser Metropole höchst gefährliche Einrichtungen sind", schrieb ein empörter Leser an eine Zeitung, und das Blatt behauptete, das Fass sei alt und verrottet gewesen. Aber bei der Untersuchung zur Feststellung der Todesursachen befand die Jury auf Unfall. Es gab keine Entschädigung für die Familien der Toten und die Habenichtse, die ihr Obdach und ihr bisschen Besitz verloren hatten. Londons spektakuläre Porterfässer boten beim Sightseeing nun auch den morbiden Reiz der tödlichen Bierflut.


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