Bayern 2 - Das Kalenderblatt


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1. September 1704 Alexander Selkirk betritt die Robinson-Insel

Wer wünscht sich nicht manchmal auf eine einsame Insel - weit fort vom modernen Leben? Schade nur: Robinsons Crusoes Dasein war alles andere als eine Idylle. Das wusste auch Daniel Defoe, sein Schöpfer. Denn er kannte die Geschichte von Robinsons realem Vorbild, Alexander Selkirk.

Stand: 01.09.2014 | Archiv

01 September

Montag, 01. September 2014

Autor(in): Carola Zinner

Sprecher(in): Hans-Jürgen Stockerl

Illustration: Angela Smets

Redaktion: Thomas Morawetz

Im Regen morgens zur S-Bahn. Zug fiel aus. Zurück nach Hause, Auto aus der Garage geholt. Im Stau zur Arbeit. Halbe Stunde Parkplatz gesucht. Im Büro 30 Mails beantwortet, dann siebzehn Telefonate geführt, davon drei erfolgreich. Mittags in der Kantine nach ewigem Anstehen festgestellt, dass Menü eins aus ist. Nachmittags Sitzung. Chef fordert mehr Effektivität und Transparenz, weiß allerdings auch nicht, wie sie zustande kommen soll.

Nach der Arbeit zurück zum Auto. Strafzettel. Parkplatz war gar keiner. Geflucht. Im Stau zurück nach Hause. Endlich die Steuererklärung angegangen. Muss diese Woche unbedingt noch weg, Finanzamt hat schon nachgefragt. Daneben Diskussion mit Tochter, wie lange sie abends fortbleiben darf. Und ewig dieser Regen.

Eine einsame Insel, irgendwo in der Südsee. Das wäre es. Sonne, Strand, Kokospalmen. Kein Regen, keine S-Bahn, kein Büro. Einfach gar nichts - nur blaues Meer, weißer Sand und eine Stroh gedeckte Hütte. Ach Robinson, wie hattest du es gut! Oder?

Also um ehrlich zu sein, soo angenehm war es wohl gar nicht auf der einsamen Insel. Robinson Crusoes Geschichte ist zwar schön, aber alles andere als realistisch. Und Daniel Defoe, der die Figur erfunden hat, wusste das auch.
Denn er kannte den wahren Fall, den Fall des Schotten Alexander Selkirk, eines schäbigen Freibeuters, der mit einer Gruppe von Gleichgesinnten losgezogen war, um französische und spanische Segler auszuplündern und auf diesem Wege reich zu werden. Das klappte nicht; statt dessen litt die Besatzung unter dem Schmutz an Bord des morschen Schiffes, unter Sturm und Regen, Hunger und Skorbut. Und doch war das immer noch besser als das Leben auf der kargen Pazifikinsel, auf der Selkirk nach einem Streit mit dem Kapitän am
1. September 1704 zurückgelassen wurde.

Über vier Jahre musste er dort ohne jegliche menschliche Gesellschaft ausharren, bis ihn ein zufällig vorbeikommendes Schiff zurückbrachte in die Zivilisation. Der Kapitän, der ihn an Bord nahm, schrieb die Geschichte seines Schützlings nieder und veröffentlichte sie in London. Defoe, ein ebenso eifriger Leser wie Schreiber, erfuhr auf diesem Weg vom unfreiwilligen Insulaner und erfand auf dieser Basis seinen Robinson, der im Gegensatz zum Original auf dem Eiland von Tag zu Tag frömmer, besser und menschlicher wird. Als Krönung seines Daseins rettet er einem Eingeborenen der Nachbarinsel das Leben, gewöhnt ihm den Appetit auf Menschenfleisch ab und erzieht ihn (den er Freitag nennt), zu einem guten Diener und Christenmenschen. Selkirks einzige Gesellschaft hingegen bestand aus Ziegen, und als seine Retter auftauchten, war er nicht mehr in der Lage zu sprechen oder sich auch nur Schuhe anzuziehen.

Draußen regnet es immer weiter, die Steuererklärung gestaltet sich so, dass das diese Woche sicher nix wird mit dem Abgeben und die Tochter ist auch noch nicht zurück, obwohl wir doch eigentlich ausgemacht hatten, dass sie spätestens um zehn…

Also ... wenn wir jetzt noch mal so darüber nachdenken, über Strafzettel, Kantinenessen und die Steuererklärung, dann wären wir dem Inselleben vielleicht doch nicht so abgeneigt. Angesichts der momentanen Situation würden wir sogar die Selkirk´sche Variante in Kauf nehmen. Wenigstens für eine Weile.  


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