Bayern 2 - Bayern 2 am Samstagvormittag


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Stolperfalle München Blind durch die Stadt

Ob am Sendlinger Tor oder am Hauptbahnhof: Für blinde und sehbehinderte Menschen sind Großbaustellen besonders mühsam, denn die sich ständig ändernden Wege erschweren die Orientierung. Hinzu kommen unachtsam abgestellte Radl oder E-Scooter.

Von: Sandra Demmelhuber

Stand: 03.07.2021 | Archiv

Stefanie Freitag steht an der U-Bahn-Haltestelle Sendlinger Tor.  | Bild: BR / Sandra Demmelhuber

Mit Stefanie Freitag bin ich zu einem kleinen Spaziergang durch die Stadt verabredet: Von der Arnulfstraße soll es über den Hauptbahnhof zum Stachus gehen, von dort dann über die Fußgängerzone zum Sendlinger Tor.

Für mich ist das ein Weg, den ich mehrmals in der Woche gehe – meistens eher gedankenverloren, manchmal sogar mit Kopfhörer. Für meine Begleiterin ist das aber ganz anders: Stefanie Freitag schafft einen Spaziergang durch diesen Teil der Stadt nur, wenn sie sich die ganze Zeit hoch konzentriert. Die 49-Jährige ist nämlich seit ihrer Geburt hochgradig sehbehindert. In ihrem Fall heißt das, dass sie auf einen Meter Abstand nur rund fünf Prozent sieht.

Ein Radl quer am Gehweg

Wir gehen gerade einmal ein paar Meter, schon steht uns ein Radl mitten im Weg. Es ist an der Arnulfstraße quer über den Fußgängerüberweg an eine Ampel gekettet. Der gelbe Drücker ist nun nicht mehr zu erreichen, sogar für Sehende. Blinde Menschen laufen darüber hinaus Gefahr, sich in den Speichen mit dem Blindenstock zu verfangen.

"An irgendwelchen Stangen werden halt immer irgendwelche Gegenstände befestigt, auch an den Ampeln! Wenn es eine ist mit taktil-akustischer Einrichtung, kommt man gar nicht hin, weil da ein Radl im Weg steht. Da hat man erstmal einen Lenker im Bauch!"

Stefanie Freitag

Hürde an Baustellen: Mobile Ampeln

Vorbei an Bauzäunen und noch ein paar weiteren Fahrrädern, die daran festgemacht sind, geht es Richtung Hauptbahnhof. Doch schon gleich kommt das nächste Hindernis: Eine Ampel, die vorher woanders war. Stefanie Freitag orientiert sich an einem Pfosten, den sie kennt. "Das hätte ich jetzt nicht gewusst, dass die Ampel jetzt verlegt worden ist", stellt sie fest. An der Großbaustelle am Hauptbahnhof kommt es jetzt häufiger vor, dass mobile Ampeln aufgestellt oder feste Ampelanlagen versetzt werden.

Stefanie Freitag erklärt mir die „taktil-akustische“-Einrichtung an der Ampel. Also das gelbe Kästchen, wo wir vorne draufdrücken. Wenn man aber unten hinfasst, spürt man bei Grün einen vibrierenden Pfeil, der die Richtung anzeigt. Einige Ampeln haben zusätzlich ein akustisches Signal. Das ist besonders wichtig, weil Menschen, die gar nichts sehen, einen unbewussten Zug nach links oder rechts haben. Das kennt ja eigentlich jeder, der schon einmal versucht hat, mit geschlossenen Augen zu gehen.

Überall stehen E-Scooter herum

Weiter geht's von der Baustelle am Bahnhofsvorplatz zum Stachus. Erst müssen wir aber noch ein paar E-Scooter ausweichen, die mitten am Gehweg abgestellt worden sind oder an Hauswänden oder Baustellenzäunen lehnen. "Das macht es einfach anstrengend", sagt Stefanie Freitag, während sie versucht, wieder auf den Gehweg zu finden.

Unachtsam abgestellte E-Scooter und Fahrräder sind aber nicht nur ein Problem für Sehbehinderte oder Blinde, sondern auch für Rollstuhlfahrer, Ältere oder Menschen mit Kinderwagen. Und auch sehende Menschen stolpern leicht einmal darüber, wenn sie beispielsweise auf ihr Handy schauen oder anderweitig abgelenkt sind.

Zugestellte Blinden-Leitstreifen und Plakatständer im Weg

Geschafft! Jetzt sind wir in der Fußgängerzone angekommen. Stefanie Freitag hat den Weg durch die unterirdischen Passagen genommen, da kann sie sich besser orientieren als oben über die Sonnenstraße. An diesem Nachmittag ist in der Kaufingerstraße jedoch wenig los, da fällt der 49-Jährigen die Orientierung leicht – auch wenn es dort noch keinen Blinden-Leitstreifen am Boden gibt.

Am Marienplatz steht uns noch an einem Eck ein Plakatständer mitten im Weg. Aber an der Sendlinger Straße findet Stefanie Freitag gleich den neu angelegten Blinden-Leitstreifen, der die ganze Straße hinunter führt bis zum Sendlinger Tor.  

Doch leider – nach nur wenigen Metern – stehen Fahrräder quer darüber. Und gleich dahinter ein etwa fünf Meter hohes Plakat für das Filmfest München. Die Münchnerin kann das nicht verstehen: "Obwohl jetzt auch der Behindertenbeirat wirklich oft genug gesagt hat: 'Es möge bitte darauf geachtet werden, dass nichts auf dem Leitstreifen steht, keine Mülleimer oder dergleichen... Also, das Plakat, das ist schon cool!"

Leitlinien wichtig für Menschen, die gar nichts sehen können

Stefanie Freitag sieht ja wenigstens ein bisschen etwas und kann sich grob orientieren. Doch Menschen, die überhaupt nichts sehen können - also blind sind - brauchen beim Gehen eine Leitlinie. Das kann eine Bordsteinkante sein oder eine Hausmauer. Da das in einer Fußgängerzone mit vielen Geschäften jedoch schwierig ist, gibt es mittlerweile immer häufiger Blinden-Leitstreifen.

An der Sendlinger Straße wird dieser gerillte Streifen immer wieder von genoppten Quadraten unterbrochen. Die Münchnerin erklärt, was das genau bedeutet:

"Bei Rippen gehen, bei Noppen stehen! - Bei Noppen passiert halt immer was."

Stefanie Freitag

Die genoppten Vierecke bedeuten also immer: Obacht! Sie warnen also beispielsweise vor einer Richtungsänderung, Kreuzung oder markieren zum Beispiel den Eingang zur U-Bahn.  

"Umsteigen am Sendlinger Tor alleine zu kompliziert"

Und da sind wir jetzt auch angekommen! Für Stefanie Freitag ist die Großbaustelle am Sendlinger Tor derzeit besonders schwierig. Doch am Eingang stehen zwei Mitarbeiter und fragen, ob wir Hilfe brauchen. Alleine würde sie den Weg zu ihrer U-Bahn nicht finden.

"Das ist einfach mit dem Umbau jetzt ganz schwer und ich weiß auch, viele vom Bekanntenkreis steigen jetzt, wenn es nicht notwendig ist, am Sendlinger Tor nicht um. Weil sie sagen, das ist ihnen alleine zu kompliziert."

Stefanie Freitag

Die Baumaßnahmen am Sendlinger-Tor-Platz und die sich dadurch häufig ändernden Wege im Zwischengeschoss sind vor allem für sehbehinderte Menschen ein großes Problem.

Ein neues Blindenleitsystem wird jedoch einer der zentralen Punkte bei der Modernisierung des Bahnhofs sein. An dem ganz neu gebauten Eingang gibt es sogar schon eine Handlaufbeschriftung - sowohl in Blindenschrift als auch in Pyramidenschrift, also mit fühlbaren Buchstaben, für diejenigen, die keine Blindenschrift können.

Damit Menschen mit Einschränkungen sich etwas besser zurechtfinden, stehen während der Bauphase Servicemitarbeiter bereit, erklärt Johannes Boos von den Stadtwerken München: "Sie sind dafür sensibilisiert, bei Bedarf aktiv auf Orientierungssuchende zuzugehen und Hilfe anzubieten. Vor allem dann, wenn diese Orientierungssuchenden ohne Begleitung unterwegs sind."

Blindenbund: "Kommunikation mit Stadt und Stadtwerken läuft ganz gut"

Dass sich die Schwierigkeiten bei den Umbaumaßnahmen, wie derzeit am Sendlinger Tor oder am Hauptbahnhof, nicht ganz vermeiden lassen, weiß auch der Bayerische Blinden- und Sehbehinderten-Bund. Die Kommunikation mit der Stadt und dem U-Bahn-Betreiber laufe aber sehr gut, sagt die ehrenamtliche Landesvorsitzende Judith Faltl.

"Die Kommunikation hat sich sehr gut entwickelt. Sie melden uns auch immer, wenn sie etwas vorhaben. Sie sind auch bereit, Dinge, die jetzt schon älter sind, wie beispielsweise das Leitsystem der U-Bahn, zu aktualisieren und sie haben sich auch entschieden, zukünftig alle Leitsysteme normgerecht auszuführen - damit wir überall die gleichen Rillen vorfinden."

Judith Faltl, Ehrenamtliche Landesvorsitzende des Bayerischen Blinden- und Sehbhinderten-Bundes

Größtes Problem: Unachtsam abgestellte Gegenstände

Das größere Problem sind da vielmehr die achtlos abgestellten Gegenstände, die Wege und Orientierungspunkte versperren – und es werden immer mehr.

In München gibt es etwa 3.000 bis 5.000 blinde oder sehbehinderte Menschen, die sich täglich durch die Stadt bewegen. Hinzu kommt noch eine hohe Dunkelziffer an älteren Menschen, die nicht mehr gut sehen, so der Blindenbund.

Wir alle können diesen Menschen schon alleine dadurch helfen, wenn wir beim nächsten Mal genauer hinschauen, wo wir beispielsweise unser Radl abstellen.

Blindenbund: "Gerne Hilfe anbieten"

Und noch etwas können wir selbst beitragen: Wenn wir sehen, dass sich jemand schwer tut, am Hauptbahnhof oder am Sendlinger Tor den Weg zu finden, können wir auch einfach Hilfe anbieten, so Judith Faltl vom Blindenbund.

"Ja, Sie können helfen, wenn sie einen blinden oder sehbehinderten Menschen sehen: Sprechen Sie ihn gerne an. Bieten Sie Hilfe an. Er wird auch sagen, ob er’s braucht oder nicht."

Judith Faltl, Ehrenamtliche Landesvorsitzende des Bayerischen Blinden- und Sehbhinderten-Bundes


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