Interview mit Booker-Preisträger Damon Galgut "In Südafrika kennt die Mehrzahl der Mörder ihre Opfer nicht"
Eine weiße Familie in Südafrika zerfällt und mit ihr das Versprechen, die Schwarze Hausangestellte für ihre lebenslangen Dienste zu belohnen: In "Das Versprechen" erzählt Booker-Preisträger Damon Galgut paradigmatisch die Geschichte seines Landes. Ein Interview über Gewalt, Moral und das "Du" in der Literatur.

"Das Versprechen" heißt der neue Roman von Damon Galgut – gerade ausgezeichnet mit dem Booker-Preis, dem wichtigsten Literaturpreis im englischsprachigen Raum. Damon Galgut führt uns darin in sein Heimatland Südafrika. Er erzählt eine Familiengeschichte, zugleich die politische Geschichte seines Landes. Und wir erleben die Veränderungen – im Land wie in der Familie –, indem wir die Familie über die Jahrzehnte immer dann beobachten, wenn die nächste Beerdigung ansteht. "Die Familie Swart hat so gar nichts Besonderes oder Bemerkenswertes, o nein, sie ähneln der Familie von der Nachbarfarm und der Nachbarfarm der Nachbarfarm, nur eine gewöhnliche Bande weißer Südafrikaner;" heißt es im Buch. Ganz gewöhnliche weiße Südafrikaner also, aber Damon Galgut erzählt sehr einfühlsam von dieser Familie, er erzählt mit großem Interesse und großem Einfühlungsvermögen. Und genau das hat mich interessiert, als ich vor der Sendung mit dem Autor sprechen konnte.
Marie Schoeß: Wie geht das zusammen – diese im Kern ja wenig schmeichelhafte Erkenntnis, dass dies eine gewöhnliche Familie weißer Südafrikaner ist, und die große Empathie mit ihr?
Damon Galgut: Na ja, ich bin selbst ein "normaler" weißer Südafrikaner. Auch ich bin in Pretoria großgeworden – nicht ganz so wie im Buch, aber ich komme auch aus einer dysfunktionalen Familie. Und schon als Kind habe ich in Familien von Freunden beobachtet, dass sich überall dieselben Fragen stellen. Das Ganze ist mir also sehr vertraut; und wer etwas von innen heraus betrachtet, hat eine besondere Verbindung dazu – selbst wenn es unappetitlich wird. Man hat auch bei den komplizierten, zwiespältigen Angelegenheiten Empathie, weil es ein Teil von einem selbst ist und vom eigenen Hintergrund.
Der Roman beginnt in den letzten Jahren der Apartheid und führt bis in die Präsidentschaftsjahre von Jacob Zuma, wir verfolgen diese Familie also in politisch wechselhaften Zeiten. Aber nicht die Politik gibt dem Roman seine Struktur, sondern die Beerdigungen der Familie. War für Sie gleich klar, dass der Tod diese Geschichte strukturiert?
Das war die erste Idee: Ich habe einen Freund getroffen – er ist ungefähr zehn Jahre älter als ich – und er ist der Letzte seiner Familie, der noch übrig ist: Eltern, Brüder, die Schwester: alle tot. Aber als er von den Beerdigungen erzählte, hat er mich zum Lachen gebracht. Klar, das sind erst einmal traurige Anlässe, aber er hat darin so viel Menschliches gefunden, das witzig war: Dinge, die schieflaufen, Strategien, Pläne der einzelnen.
Und da ist mir klargeworden: Wenn man eine Geschichte von vier Beerdigungen erzählt, hat das etwas Theatrales. Wie vier Akte im Drama. Der Vorhang geht auf und du verfolgst die Dinge, komprimiert auf wenige Tage. Und beim nächsten Vorhang sind die Menschen nicht unbedingt klüger, aber sie sind älter und auch die Dinge haben sich verändert. Die Idee hat mich gereizt – und sie ließ mich mit der Frage von Zeit spielen, mit dem Verstreichen von Zeit – für mich: das verborgene Thema des Buches.
Die jüngste Tochter Amor war für mich der interessanteste Charakter der Familie: Sie will das Versprechen einlösen, das dem Buch seinen Titel gibt. Sie will der schwarzen Angestellten das Haus überschreiben, in dem diese ihr Leben lang untergebracht war. Und einmal heißt es, Amor sei unsichtbar für ihre Familie, und dieses Unsichtbarsein trifft sonst nur auf die schwarzen Hausangestellten zu. Amor weicht also die Grenzen zwischen Schwarz und Weiß auf – zumindest momentweise, zumindest symbolisch. Wie viel Hoffnung liegt für Sie am Ende in dieser Figur?
Amor ist auch für mich ein komplizierter Fall. In dieser Familie leben sonst ja eher egoistische, unangenehme Menschen. Das weiße Südafrika ist nicht unbedingt bekannt für seine Großherzigkeit – und auf die eine oder andere Weise repräsentieren sie alle dieses Land. Aber ich wollte ein moralisches Zentrum, irgendeine moralische Anwesenheit im Buch, und das ist für mich Amor. Sie ist die Figur, die das Versprechen ernst nimmt, die will, dass es eingelöst wird, während alle anderen es beiseiteschieben.
Und gleichzeitig misstraue ich – als Schriftsteller – Büchern, die die Welt in gute und schlechte Menschen aufteilen. Ich mag es nicht, wenn einem Bücher vormachen, man könnte die Probleme einfach lösen. Und das tun sie, wenn sie zuerst ein Problem aufbauen und dann werden die Guten belohnt, die Schlechten bestraft, und als Leser denkst du: Alles ist geklärt, die Probleme aufgelöst. Das spiegelt für mich nicht die Welt wider – meistens sind Menschen nicht einfach gut oder schlecht, sondern sie verhalten sich mal – in Anführungszeichen – gut und mal schlecht.
Ich wollte also, dass Amor nicht wie eine Heilige aussieht, dann wäre mir ihre Standhaftigkeit nicht glaubwürdig vorkommen. Wie gut ist sie denn wirklich? Diese Frage sollte bleiben: Und woher kommt das Gute? Für mich wirken diese "Quasi-Heiligen" – Gandhi zum Beispiel – immer ein bisschen falsch. Ich will da niemandem zu nahe treten, sie wirken auf mich einfach nicht ganz menschlich. Ich frag mich immer: Ist dieses Heilige wirklich eine menschliche Eigenschaft, oder kommt es anderswoher? Können wir also in unserer Welt damit arbeiten? Diese Probleme wollte ich im Buch behandeln.
Wir erfahren auf der anderen Seite auch einiges über Gewalt und Grausamkeiten im Land. Und was viele der Gewalttaten verbindet, ist, wie unpersönlich sie wirken. Ist diese Erfahrung des unpersönlichen Verbrechens stark mit Südafrika verbunden?
Der südafrikanische Autor Rian Malan hat in seinem Sachbuch "My Traitors Heard" darauf aufmerksam gemacht, dass in anderen Ländern Morde normalerweise von Menschen begangen werden, die sich kennen. Es gibt ein persönliches Motiv: Rache, Strafe oder was auch immer. In Südafrika dagegen kennt die große Mehrzahl der Mörder ihre Opfer nicht. Und das stimmt bis heute. Oft geht es um Geld oder darum, dass es keine Zeugen für einen Diebstahl geben soll. Also: Arme Menschen klauen ein Auto, du siehst es – und wirst umgebracht, nicht, weil man dich hasst, sondern weil du es gesehen hast.
Aber gleichzeitig gibt es viele Einbrüche, auch Attacken, bei denen wirklich schreckliche Dinge geschehen, die sich auch persönlich anfühlen – Folter zum Beispiel. Es reicht nicht, jemanden umzubringen, er soll leiden. Und dahinter steckt natürlich die Frage nach "race". Das ist auf gewisse Art dann auch unpersönlich, die Leute kennen sich nicht, aber es ist trotzdem persönlich, es fühlt sich wie Rache für die Geschichte an: Man tut das den Menschen an, weil sie weiß sind, weil sie in dem Moment für alles stehen, was weiße Leute in diesem Land gemacht haben. Das ist nur ein Teil des hässlichen Erbes der Apartheid.
Man merkt jetzt schon, wie viel Dringlichkeit in dem Stoff steckt. Diese Dringlichkeit spürt man auf jeder Seite, was aber auch an der Form liegt: Sie wechseln unglaublich schnell die Perspektive, wir springen vom Erzähler in der 3. Person in die Innensicht einer Figur, dann wieder zu einem allwissenden Erzähler. Mal ist der Erzähler ganz weit weg, dann ganz nah, aber nie hat er Zeit zu verlieren. Wie haben Sie diese Form gefunden?
Als ich mit dem Buch begonnen habe, war die Erzählweise ziemlich konventionell. Ein Erzähler in der dritten Person, alles relativ stabil. Aber dann musste ich das Schreiben für ein paar Drehbücher unterbrechen. Acht Monate Filmarbeit, nach denen klar war, dass ich einiges von der Kino-Logik für die Prosa dieses Textes nutzen kann. Beim Drehbuch musst du immer die Kamera im Kopf haben: Wo steht sie, was sieht sie, was nicht? Eine Szene besteht dann aus Schnitten – Schnitte zwischen den Perspektiven, mal bist du nah, mal weit weg – und all das macht das Erlebnis Kino aus.
In diesem Buch habe ich etwas Ähnliches probiert: Wir gehen mit den Augen der einen Figur in die Erzählung rein, dann macht die Erzählstimme einen Schnitt, der Erzähler sieht alles von weit oben oder ganz aus der Nähe. Und diese Sprünge haben mir gefallen, weil sie zeigen, wie viel Dringlichkeit das Geschichtenerzählen in Südafrika immer begleitet. Es gibt hier die verschiedensten Stimmen, die verschiedensten Arten, ein und dasselbe zu sehen. Südafrika ist ein Land, in dem verschiedene Perspektiven die Wahrheit sind. Es gibt da nicht die eine Stimme, die für uns spricht. Nur einen Chor – und der ist nicht besonders harmonisch.
Man wird von diesem Erzähler auch mal direkt angesprochen: An einer Stelle war das besonders auffällig – ziemlich am Schluss lesen wir, dass wir von Salome, also von der schwarzen Haushälterin, nichts erfahren haben, weil wir nicht nach ihr gefragt haben. Und wenn Salomes Heimat bislang mit keinem Wort erwähnt wurde, heißt es da, dann liegt das daran, dass du nicht danach gefragt hast, weil es dich nicht interessiert. Welchen Leser hatten Sie da im Kopf, wer ist dieses "Du"?
Das ist gar nicht so leicht – denn das "Du" verändert sich zusammen mit dem Erzähler. Aber: Jede Geschichte wird von jemandem erzählt, es gibt keine Geschichte, die nicht erzählt wird. Ich wollte den Erzähler spürbar machen. Du sollst merken, dass dir diese Geschichte von jemandem erzählt wird, dass immer ein Ton, eine Haltung, dass Werte von jemandem in eine Erzählung einfließen. Man kann sich diesen Erzähler also eher als Charakter vorstellen: nicht, weil er handelt, sondern weil er alles kommentiert – so kommt auch der Humor rein, weil dieser Erzähler vieles lustig findet.
Aber ich wollte auch, dass sich der Erzähler in wichtigen Momenten von der Szene abwendet und auf den Leser zeigt: Und die Passage, von der Sie sprachen – dass wir nicht viel über Salomes Leben erfahren haben, obwohl sie im Mittelpunkt der ganzen Geschichte steht, das Versprechen gilt ja ihr – diese Passage sollte sich unangenehm für den Leser anfühlen: Als sei er mitverantwortlich für die Art, wie diese Geschichte erzählt oder eben nicht erzählt wird. Der Erzähler beschuldigt den Leser also sehr direkt und sagt: Du erfährst nichts von dieser Frau. Und vielleicht ist das so, weil du nichts von ihr wissen willst, weil du nicht daran gedacht hast nachzufragen. Ich hoffe, der Leser ist dann in der unangenehmen Position und denkt: Ja, ich kenne bestimmte Teile dieser Geschichte nicht, weil ich sie nicht kennenlernen wollte. Das mag für den einen stimmen und für den anderen nicht, aber ich wollte alle Leser in diese Position versetzen.
"Das Versprechen" von Damon Galgut erscheint am 23. Dezember bei Luchterhand.
Die Buchbesprechung läuft am 2. Januar 2022 im Büchermagazin Bayern 2 Diwan. Den Podcast zur Sendung können Sie hier abonnieren.