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Neuer Roman von Jonathan Lethem "Anatomie eines Spielers": Backgammon in sexy

Jonathan Lethems neuestes Werk dreht sich um ein Spiel, das heute keinen besonders spektakulären Ruf hat, früher aber als geradezu erotisch galt: Backgammon. Laura Freisberg hat mit ihm über seinen Roman "Anatomie eines Spielers“ gesprochen.

Von: Laura Freisberg

Stand: 05.08.2021 | Archiv |Bildnachweis

Backgammon | Bild: picture alliance / PantherMedia | Mihai Barbu

Ein Roman über einen Backgammon-Spieler, das klingt erstmal weder nach Komödie, noch nach einer Horrorgeschichte. Backgammon, das ist, zumindest für Uneingeweihte, dieses Spiel, das alte Männer in Cafehäusern spielen. Gemütlich, stilvoll, nicht ganz so komplex wie Schach.

"Backgammon hat seinen ganz eigenen Charme. Und ich habe herausgefunden, dass Backgammon in den 70er Jahren seltsamerweise sehr sexy wurde. Backgammon gibt es seit Jahrhunderten – und in den 70er Jahren fand man sogar in Pornoheften Bilder von nackten Frauen mit einem Backgammon-Spiel. Und dieser etwas schmierige Aspekt hat mich interessiert. James Bond sieht man Backgammon spielen, in einem der schlechten Bond-Filme aus den 70ern", sagt Lethem.

Alexander Bruno, der Backgammon-Spieler in seinem Roman, sieht ein bisschen aus wie Bond-Darsteller Roger Moore – und einer der "Höhepunkte“ des Romans ist dann tatsächlich auch eine Sexszene, der eine Runde Strip-Backgammon vorausgeht. Aber eigentlich spielt Lethems Protagonist nicht um Kleidung, sondern um Geld, sehr viel Geld. Und: er hat eine besondere Begabung, erzählt Lenthem: "Er glaubt, dass er Gedankenlesen kann – das ist zwar unangenehm für ihn, macht ihn aber auch zu einem superheldenhaften Backgammon-Spieler. Wobei wir nie erleben, dass es wirklich klappt."

Neurologen als Hohepriester

Doch dann kommt diesem geschmeidigen Spieler ein Fleck in die Quere. Ein Fleck in seinem Blickfeld, der entsteht, weil ein Tumor auf den Sehnerv drückt. Ausgerechnet bei seinem wichtigsten Spiel, gegen einen schwerreichen Mann in einer Berliner Villa. Die Ärzte an der Berliner Charité geben ihn verloren – doch in San Francisco, der verhassten Heimatstadt von Alexander Bruno, gibt es einen Neurologen, der solche Tumore mitten im Kopf operieren kann. Seine Methode klingt dann doch nach Horrorfilm: operiert wird, indem das Gesicht wie ein Lätzchen nach unten geklappt wird. 

Jonathan Lethem hat schon lange eine Begeisterung für alles, was mit dem menschlichen Gehirn zu tun hat: Wahrnehmung, Wahnvorstellungen, Fehlleistungen, Erkrankungen. Für seine Figur des berühmt-berüchtigten Neurologen in "Anatomie eines Spielers“, hat Lethem ausgiebig recherchiert: "Als ich angefangen habe, mich mit Neurowissenschaften zu befassen, haben mich die Neurologen wahnsinnig fasziniert: denn die stehen in der Hierarchie ganz oben. Sie sind die Hohepriester – und dafür halten sie sich auch selbst. Der Neurologe in meinem Roman ist recht nah an der Realität: wenn er Jimmy Hendrix im OP-Saal spielt, die Krankenschwestern belästigt und sich über seine sexuellen Fantasien auslässt – Neurologen sind unantastbar, sie sind Götter."

Das dramatische Backgammon-Spiel in Berlin und die Gehirn-OP in San Francisco sind großartige Szenen, die beim Lesen den Atem stocken lassen. Jonathan Lethem ist ein Künstler darin, subtil zu demonstrieren, wie jeder Mensch seine Realität interpretiert und konstruiert. Der Neurologe zum Beispiel, stellt sich vor, er würde Jimmy Hendrix operieren – damit er genügend Leidenschaft für das Hirn seiner Patienten aufbringen kann. Die tatsächlichen Menschen interessieren ihn nicht.

Kein "typischer Lethem"

Auch wenn "Anatomie eines Spielers“ mit den Lethem-typischen verrückten Figuren bestückt ist – wie einer keuschen Prostituierten, einem verlotterten Millionär und einem kommunistischen Imbiss-Betreiber – und auch wenn die amerikanische Gegenkultur in San Francisco nicht zu kurz kommt – so ist der Roman doch nachdenklicher, als ein "typischer Lethem".

Vielleicht erleben wir hier eine Art Midlife Crisis des Protagonisten: er ist tödlich erkrankt, die OP nimmt ihm sein gutes Aussehen und ohne Hilfe von Freunden wäre er verloren. In wenigen Tagen ist aus dem James-Bond-mäßigen Einzelgänger ein Freak geworden, der sich nur noch mit Maske aus dem Haus traut und der für eine Unterkunft und etwas Taschengeld dankbar sein muss.

Am Ende fragt man sich, ob Lethem nicht mit uns gespielt hat – ob Alexander Bruno wirklich ein superheldenhafter Spieler ist, oder einfach nur eine arme Wurst. Aber das ist vermutlich einfach Ansichtssache. Lethem sagt dazu: "Wenn wir Zusammenbrüche haben, wie mein Protagonist – dann wird klar, wie sehr wir die Realität konstruierten. Das müssen wir, um die eigene Bedeutungslosigkeit auszuhalten. Um auszuhalten, dass wir nur Spielsteine auf einem Brett sind, die hin- und hergeschoben werden."

"Anatomie eines Spielers" von Jonathan Lethem ist im Klett-Cotta Verlag erschienen und kostet 25,00 Euro. Das Beitrag aus dem Büchermagazin Diwan können Sie hier nachhören.