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Nach dem NSU ist vor dem NSU

Kolumne: Auf dem rechten Auge hellwach Nach dem NSU ist vor dem NSU

Stand: 15.02.2016

In einem Auge spiegeln sich wutverzerrte Gesichter von Neonazis | Bild: colourbox.com; picture-alliance/dpa; Montage: BR

Vier Jahre nach dem Auffliegen des NSU ist rechter Terror in Deutschland Alltag. Davon zeugen über 1000 Angriffe auf Flüchtlingsunterkünfte allein im Jahr 2015, 70 davon in Bayern. Und es verdichten sich die Hinweise, dass sich in der Neonaziszene auch wieder feste Terrorstrukturen formieren.

Von: Thies Marsen

Nürnberg, 23. Juni 1999: In einer von Migranten betriebenen Kneipe explodiert eine als Taschenlampe getarnte Rohrbombe. Ein Putzmann wird verletzt. Das bayerische Landeskriminalamt erklärt: "Anhaltspunkte für politische Hintergründe des Vorfalls sind nicht erkennbar." Schon bald wird der Fall zu den Akten gelegt.

Nürnberg, 21. Dezember 2015: Unbekannte werfen einen illegalen Feuerwerkskörper in ein von Migranten betriebenes Restaurant. Der Wirt versucht, den Böller nach draußen zu werfen, um seine Gäste zu schützen, dabei explodiert der Feuerwerkskörper. Dem 44-Jährigen wird die komplette Hand abgerissen. Ein Polizeisprecher erklärt, es sei unklar, ob ausländerfeindliche Motive eine Rolle gespielt haben, es können auch ein aus dem Ruder gelaufener Streich gewesen sein.

Zwei Mal Nürnberg, zwei Mal Sprengkörper in einer von Migranten betrieben Gastwirtschaft. Von der Tat aus dem Jahr 1999 wissen wir inzwischen, dass dies der erste Anschlag des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) gewesen ist. Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt hatten die Taschenlampenbombe in der Nürnberger Kneipe deponiert. Ein Jahr später werden sie ihren ersten Mord verüben, wieder in Nürnberg. Neun weitere Morde, zwei Bombenanschläge und mehr als ein Dutzend Raubüberfälle werden folgen.

Rechte Gewalttaten in Bayern

Wie beim NSU?

Wer den Anschlag kurz vor Weihnachten 2015 verübt hat, ist bislang unklar. Die Aussagen der Polizei lassen allerdings befürchten, dass es in Sachen Aufklärung ähnlich laufen könnte, wie im Fall des Attentats aus dem Jahr 1999. Mal wieder wird "in alle Richtungen" ermittelt, wogegen ja grundsätzlich nichts zu sagen wäre, würde das in der Praxis nicht regelmäßig bedeuten, dass in eine ganz bestimmte Richtung eben nicht bzw. viel zu wenig ermittelt wird: In Richtung rassistische Motive und Täter aus der rechtsextremen Szene. Natürlich kann nicht mit Sicherheit gesagt werden, dass der oder die Attentäter vom Dezember 2015 Rechtsterroristen waren und schon gar nicht dass dieser Anschlag der Auftakt zu einer mörderischen Terrorserie gewesen sein könnte. Aber es ist eben kein reines Hirngespinst, genau das für möglich zu halten.

Braune Terrorgruppen in Bayern

Denn tatsächlich bilden sich längst braune Terrortruppen. Im letzten Jahr hoben die Sicherheitskräfte allein in Bayern zwei Neonazigruppen aus, die auf dem Sprung waren, eine rechtsterroristische Vereinigung zu bilden: Die sogenannte "Old School Society", deren Chef in Augsburg lebt und die Anschläge auf Salafisten geplant haben soll. Und eine Gruppe aus dem Raum Erlangen, Nürnberg und Bamberg, die sich vor allem aus dem Umfeld der Neonazipartei "Die Rechte" und des Nürnberger Pegida-Ablegers rekrutierte. Offenbar waren die gewaltbereiten Aktivisten bereits dabei, sich illegale Sprengkörper aus Tschechien zu besorgen, um damit Flüchtlingsunterkünfte und Linke anzugreifen.

Aus der Terror"gefahr" ist Terror geworden

Die rechte Terrorgefahr ist also durchaus real. Sie wird geschürt durch all den Hass, die Gewalt- und Morddrohungen, die in den sozialen Medien inzwischen allgegenwärtig sind und für die die Verfasser und Verbreiter fast nie zur Rechenschaft gezogen werden. Und sie wird ebenso geschürt durch eine politische Debatte, die – insbesondere beim Thema Flüchtlinge – geprägt ist von Hysterie und Schamlosigkeit und in der bürgerliche Politiker inzwischen ein Vokabular verwenden, das noch vor wenigen Monaten mit Fug und Recht als rechtsradikal bezeichnet worden ist. Vor diesem Hintergrund schreiten immer mehr Rassisten inzwischen zur Tat – frei nach dem Motto, das sich einst schon der NSU gegeben hat: "Taten statt Worte". Und genau genommen, ist es fast schon verharmlosend von einer Terror"gefahr" zu sprechen angesichts der täglichen Anschläge auf Flüchtlingsunterkünfte mit Brandbeschleunigern, Handgranaten oder Pistolenschüssen – was soll das denn anderes sein als Terror?

Vorra - ein Jahr danach

In einigen Teilen der Sicherheitsapparats wird das inzwischen durchaus gesehen. Selbst das Bundeskriminalamt warnt inzwischen vor einem neuen Terror a la NSU, und sogar der bayerische Verfassungsschutz will angesichts der "aufgeheizten Stimmung" nicht ausschließen, "dass sich Gruppen bilden, die dazu bereit sind, rechtsterroristische Anschläge zu verüben". Während die rechte Terrorgefahr früher systematisch verleugnet wurde, scheint insbesondere in Geheimdienstkreisen inzwischen die Angst umzugehen, dass den Diensten noch einmal ein derartiger Super-Gau passieren könnte, wie der NSU, der längst Synonym ist für ein beispielloses Staatsversagen. Die ohnehin schon schwer beschädigte Reputation des Verfassungsschutzes, so die Befürchtung, könnte dann endgültig ruiniert sein, mithin die Existenz der Behörde auf dem Spiel stehen.

Deshalb ist die Sensibilität gegenüber rechter Gewalt derzeit vergleichsweise hoch – endlich. Allerdings gilt das nur für Teile der Sicherheitsbehörden. Und es gilt leider auch nicht für weite Teile von Politik, Medien und Öffentlichkeit.