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Wie Architektur Menschen ausgrenzt

RESPEKT Wie Architektur Menschen ausgrenzt

Stand: 12.07.2023

Mittelalterliche Bauten kennt man ja: mit meterdicken Wänden und Schießscharten, einem tiefen Burggraben. Aber 2023? Auch heute gibt es noch jede Menge Ideen, Städte so umzugestalten, dass sich nur bestimmte Menschen willkommen fühlen. Und auf der anderen Seite die Menschen vertrieben werden, die nicht ins schöne Stadtbild passen.

Definition

  • Unter feindseliger, diskriminierender oder ausgrenzender Architektur versteht man bauliche Maßnahmen gegen unerwünschte Personen.
  • Mit einem abwehrenden und feindlich gestalteten Design soll verhindert werden, dass zum Beispiel wohnungslose Menschen oder Jugendliche Orte im öffentlichen Raum anders nutzen als vorgesehen. Öffentlicher Raum sind alle frei zugänglichen Flächen in einer Stadt oder Gemeinde, also zum Beispiel Gehwege und Straßen, Fußgängerzonen und Plätze, Grünanlagen und Parks, Spielplätze, Sportflächen, etc.
  • Dazu werden zum Beispiel Bänke aufgestellt, auf denen Armlehnen das Liegen verhindern. Oder Sitzgelegenheiten aus Metall oder Stein, die schnell auskühlen und womöglich auch noch uneben und abgeschrägt sind, um Menschen abzuhalten, darauf zu schlafen.
  • Oder Geländer mit kleinen Erhebungen, die verhindern sollen, dass Skater:innen darauf ihre Tricks machen.
  • Auch Musik ist eine Methode zur Abschreckung – als Dauerbeschallung. Damit Menschen sich an manchen Orten nicht länger aufhalten oder gar schlafen wollen.

Die Würde des Menschen ist unantastbar?

Dieter Bichler weiß, wovon er spricht. Nach einem Schicksalsschlag war er für elf Monate obdachlos. Er sagt: Die Lage auf den Straßen Berlins hat sich verschärft. Hauseingänge werden so umgestaltet, dass man keinen Unterschlupf mehr darin findet. Luftschlitze und Gitterroste werden verschlossen, damit die entweichende Luft nächtliche Besucher nicht mehr wärmen kann. Dieter Bichler kennt sogar ein Kaufhaus, das vor seinen Eingängen in Bodennähe absichtlich Chemikalien versprüht hat, um Obdachlose zu vertreiben.

Heute macht Dieter Bichler Stadtführungen für den gemeinnützigen Verein "querstadtein" und möchte möglichst anschaulich zeigen, wie es ist, auf der Straße zu leben. Und dass es jede:n treffen kann, auf der Straße zu landen.

Dieter Bichler, querstadtein e.V.

"Bei Schulklassen denke ich, ich möchte denen beibringen, wie es kommen kann. Und ich möchte denen beibringen, dass es so weit nicht kommen muss. Man kann, wenn man die richtige Hilfe hat, immer was dagegen unternehmen. Bei allen anderen Teilnehmern möchte ich eigentlich nur klarmachen, dass Obdachlose genauso Menschen sind wie wir. Jeder möchte ein bisschen Leben haben, und jeder möchte ein bisschen Ruhe haben. […]"

Dieter Bichler, querstadtein e.V. Berlin

Zahlen und Fakten

  • Im öffentlichen Raum geht es immer auch darum, wer dazugehört und wer nicht.
  • Menschen durch architektonische Gestaltungselemente auszugrenzen ist nicht neu.
  • Im Mittelalter hatte man Mauern, Gräben, bewachte Tore und Türme.
  • Sogar der öffentliche Versammlungsplatz im antiken Griechenland, die Agora, war nicht für alle da: Sklaven und Frauen mussten draußen bleiben.
  • Prächtige, große Bauwerke sind immer schon Ausdruck von Macht. Wenn Architektur einschüchtert, grenzt sie auch aus.
  • Heute setzt man dabei immer häufiger auf Hightech (Hochtechnologie), aber es gibt immer noch Methoden, die an alte Zeiten erinnern.

Quellen: "Zahlen und Fakten: Feindselige Architektur" Format: PDF Größe: 124,48 KB

Unsere Städte sollen schöner werden?

Auch in München finden sich Beispiele für feindliche Architektur – nicht nur gegen wohnungslose Menschen. Max ist Skater und frustriert. Von vielen Plätzen, auf denen er sich mit anderen aus der Szene seit Jahren getroffen hat, sind sie vertrieben worden. Oder die Orte sind so umgebaut, dass Skaten nicht mehr funktioniert. Die Sitzbänke, auf denen sich mit dem Board gut grinden (entlangschliddern) ließ, sind heute mit Stoppern versehen oder mit Holz abgedeckt. Max fühlt sich zunehmend unerwünscht.

Max, Skater

"Das gehört beim Skaten eigentlich immer dazu, dass es einfach nicht so toleriert wird, vor allem von älteren Leuten, weil die es auch nicht wirklich verstehen, was wir da machen. [...] Man versucht immer zu erklären, aber dadurch, dass sie halt gleich dieses Bild im Kopf haben von Lärm und Jugendlichen, die hier auf der Straße irgendwas 'kaputtmachen', lassen die halt immer relativ schwierig mit sich reden."

Max, Skater

Angst vor gewaltsamen Konflikten?

Donald van der Laan

Max fragt sich: Warum sind die anderen Stadtbewohner:innen so intolerant, obwohl sie an lebendiges Stadtleben gewöhnt sein sollten, wo der Trubel einfach dazu gehört? Einer, der es wissen muss: Donald van der Laan. Er ist Geschäftsführer eines Unternehmens, das ein Gerät verkauft, um Jugendliche beispielsweise aus Hausecken oder Hausdurchgängen zu vertreiben. Es erzeugt ein unerträgliches Geräusch: hohe Fieptöne, die nur junge Ohren hören können. Donald van der Laan argumentiert damit, dass seit der Corona-Pandemie die Konflikte wegen Lärm- und Schmutzbelästigungen immer schlimmer geworden seien. Auch mit zunehmend gewaltbereiten Jugendlichen. Ältere Menschen würden deswegen inzwischen nicht mehr den Dialog suchen, sondern auf andere Mittel zurückgreifen. Verständlich?

Raum einnehmen

Die Corona-Pandemie hat ihren Beitrag dazu geleistet, dass sich mehr Menschen einsam fühlten. Auch die Obdachlosen. Marvin und Iva wollten etwas dagegen tun. Während des ersten Lockdowns 2020 gründeten sie und andere Stuttgarter:innen den "Paule Club", eine Begegnungsstätte unterhalb der Paulinenbrücke, mit Palettenmöbeln und bald auch einem kleinen Garten.

Marvin war selbst ein halbes Jahr auf der Straße, er weiß, wie sich das anfühlt. Im Paule Club, sagt er, werden Obdachlose gesehen und gehört. Und mit dem Nötigsten ausgestattet. Iva hat Multiple Sklerose. Die Diagnose hat ihr den Boden unter den Füßen weggezogen, sagt sie. Dann hat sie für sich das Tanzen entdeckt und wieder Energie und Kraft gefunden. Die gibt sie mit ihren Tanzworkshops jetzt an suchtkranke Frauen weiter.

Marvin und Iva und die anderen vom Paule Club haben sich einfach selbst genommen, was ihnen die Stadt verwehrt hat: Raum zum Leben.

Iva, Paule Club

"Das musste auch so geschehen, weil die Stadt hat sich am Anfang wirklich sehr schwer getan mit uns. Auch die Polizei. Aber mittlerweile akzeptieren sie uns und respektieren auch unsere Arbeit. Wir haben das einfach aus dem Nichts aufgebaut. Wir haben auch nichts dafür gekriegt. Also kein Geld. Wir kriegen bis heute kein Geld für unsere Arbeit, die wir tun. Und wir wollen auch keins. Ich finde das sauwichtig, dass es nicht immer so eine, ja, Bittstellersache ist, so: Ich gebe dir was, wenn du mir was gibst. Nein, wir geben einfach gerne was. Wir haben nicht viel, aber das, was wir haben, teilen wir gern."

Iva, Paule Club

Die Stadt sollte allen gehören. Der Paule Club zeigt, dass es möglich ist, sich gemeinsam Räume zu teilen. Egal, wie viel Geld oder Macht jemand hat.

Autorin: Redaktion Lernen und Wissenslab / jzw

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