BR Fernsehen - Sehen statt Hören


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Demenz Nur vergesslich oder schon krank?

Demenz kann jeden von uns treffen! Es ist keine Frage des Alters, auch wenn die Zahl der Demenzerkrankungen mit dem Alter stetig steigt. Die Diagnose stellt Betroffene und deren Familien vor große Herausforderungen. Sehen statt Hören-Moderatorin Anke Klingemann durfte von einer Angehörigen, die ihren Ehemann sieben Jahre lang gepflegt hat und von Expertinnen mehr über diese Krankheit erfahren.

Von: Anne-Madlen Gallert

Stand: 08.02.2024

Wolfgang Müller ist lebenslustig und sportlich, hat einen fantastischen Orientierungssinn. Den Moment, in dem sich alles verändert, verortet seine Frau Ursula Müller an einen Flughafen: Wolfgang weiß plötzlich nicht mehr, wo er ist, auch mit den Flugtickets kann er nichts anfangen.

Mehr als nur den Schlüssel verschusslen

Wir alle verlegen mal das Handy, mal den Schlüssel. In aller Eile lassen wir bestimmte Dinge kurz irgendwo liegen und wissen schon Minuten später nicht mehr, wo. Eine Demenz äußert sich anders. Das Vergessen ist extremer, ungewöhnlicher und lässt sich mindestens schon seit sechs Monaten beobachten, weiß Andrea Huckemeier vom Kompetenzzentrum "Hörschädigung im Alter" in Nordrhein-Westfalen; sie ist spezialisiert auf Demenz:

"Ein Beispiel: Eine Person geht in einen Laden, um eine Packung Kaffee zu kaufen. Sie kommt damit nach Hause, doch anstatt den Kaffee in den Küchenschrank zu legen, lagert sie ihn im Schlafzimmer. Später wundert sie sich in der Küche, dass kein Kaffee da ist und geht nochmal los, um eine neue Packung zu kaufen. Das kann sich mitunter drei- bis viermal am Tag wiederholen."

Andrea Huckemeier

Viele Erkrankungen haben ein klares Krankheitsbild, so auch die Demenz. Wenn Demenz klar diagnostiziert werden kann, dann ist es auch möglich, gezielt zu behandeln und zu unterstützen. Um eine Demenz jedoch eindeutig diagnostizieren zu können, ist ein Demenztest erforderlich. Solche Tests sind für hörende Personen bereits entwickelt worden. Für gehörlose Menschen ist derzeit ein Demenztest in Gebärdensprache in der Erprobung. Ein absolutes Novum in Deutschland!

"Ein wichtiger Aspekt für uns ist dabei die sprachliche Umsetzung der Aufgaben. In Deutschland haben wir bekanntermaßen ja unterschiedliche Dialekte. Wie kann jedoch eine Aufgabe so formuliert sein, dass sie für alle gleichermaßen verständlich ist? Somit ist Standardisierung eines unserer Ziele.
Die Redewendungen, die in den Tests für hörende Personen so typisch sind, die lassen wir beiseite. Und das Fingeralphabet, das ist  ein weiteres interessantes Thema! Gehörlose Personen, die jetzt 70 Jahre und älter sind, verwenden es kaum – ganz im Gegensatz zu jüngeren Menschen, die benutzen es durchaus. Der Umgang damit ist eine interessante Fragestellung für uns. Und wir sehen uns genau an, wie die Probanden darauf reagieren. Insgesamt untersuchen wir also mit diesen Aspekten den Umgang mit Deutscher Gebärdensprache und lassen natürlich auch die Anteile der Gehörlosenkultur mit einfließen."

Lisa Stockleben, Universität Köln, ist an der Entwicklung des Test beteiligt

Wenn die Pflege zuhause die Kräfte übersteigt

Ursula wollte verhindern, dass ihr Mann ins Pflegeheim muss. Selbst nach einer Operation an ihrer Schulter, hat sie noch nach anderen Möglichkeiten gesucht, doch als Wolfgang öfter aus dem Rollstuhl gefallen ist und auch auf die Toilette gesetzt werden musste, überstieg das Ursulas Kräfte.

"Wenn man sich dabei keine Hilfe holt, kann das auch zu Lasten der eigenen Gesundheit gehen. Sowohl die körperliche wie auch die seelische Gesundheit sind in einer solchen Situation in höchster Gefahr. Deshalb ist es so wichtig, sich ambulante Hilfe in Form von Pflegediensten zu holen oder Besuchsdienste oder eine Alltagsbegleitung. All das gibt es, um pflegende Angehörige zu entlasten und die Situation gemeinsam zu bewältigen."

Andrea Huckemeier

Die eigene Demenz, die eines Angehörigen oder die des Partners in der Gehörlosengemeinschaft öffentlich zu machen, davor scheuen viele zurück. Demenz bleibt ein Tabu-Thema. Wieviel möchte man von sich preisgeben, was sagt man besser nicht? Gerade in der Gehörlosenwelt, in der jeder jeden kennt. Das hat auch unsere Arbeit und die Recherche enorm erschwert. Betroffene gibt es zwar, aber nur wenige trauen sich vor die Kamera.

"Für mich ist es eine traurige Sache, dass das Thema so tabuisiert wird. Man möchte seine eigene Demenz oder die des Partners nicht zeigen. Für mich ist Demenz eine Krankheit; eine, die nicht heilbar ist. In meinen Augen wäre es schön, wenn man offener sagen könnte: 'Ja, ich bin krank, ich habe Demenz'. Na und? Bei anderen Erkrankungen wie z.B. Krebs wird auch ganz offen darüber gesprochen. Bei Demenz erlebe ich das anders. Es wäre mir ein großes Anliegen, dass da mehr Offenheit möglich wäre."

Andrea Huckemeier

Als Betreuungsassistentin weiß Elisabeth Sen, welche Faktoren eine Demenz begünstigen können und was man präventiv tun kann. "Fit und aktiv bleiben" ist darum ihr Motto. Mit Gedächtnistraining und Gymnastik macht sie gehörlosen Seniorinnen und Senioren mit und ohne Demenz ein regelmäßiges Angebot, um sich auch im Alter geistig und körperlich fit zu halten.

"Meine Aufgabe hier ist es, dafür zu sorgen, dass die Senioren aktiv bleiben. Oft sitzen sie nur allein zuhause und haben keine Bewegung. Man merkt durchaus, dass das Gedächtnis dabei nachlässt. Wenn man nur übers Kochen redet und sonst keine Themen hat, ist das zu wenig. Man muss ihnen mehr Aufgaben geben! Ich wünsche mir, dass sie aktiver sind, damit sie noch lange leben."

Elisabeth Sen

Wolfgang kam also ins Pflegeheim. Doch sein Zustand verschlechterte sich rasant. Bald verweigerte er zu essen und zu trinken.

"In diesen zweieinhalb Monaten fühlte es sich schon so an, als sei er gestorben. Er war nicht mehr da. Ich habe oben in meinem Bett gelegen und geweint, ich wusste ja, er wird nie mehr wiederkommen. Ich habe sehr um ihn geweint. Als er schließlich starb, haben wir es alle als Erlösung für ihn empfunden. Und trotzdem macht es mich sehr traurig."

Ursula Müller

Ursula Müller hat das erste Jahr nach Wolfgangs Tod noch als traumatisch empfunden und viel Zeit gebraucht, um ihre Trauer zu verarbeiten. Geholfen haben ihr dabei ein Kuraufenthalt und Zeit für und mit Freunden.


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