Bayern 2

     

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Verfolgt. Versteckt. Verschleppt. Die letzten Überlebenden des Holocaust

Am 27. Januar 1945 wurde das Nazikonzentrationslager Auschwitz befreit. Innerhalb weniger Jahre sind dort über eine Million Menschen vernichtet worden. Der nationalsozialistischen Tötungsmaschinerie entkamen nur wenige. Thomas Muggenthaler berichtet in seinem Feature "Verfolgt. Versteckt. Verschleppt." über die letzten Überlebenden des Holocaust und ihre exemplarische Geschichten aus Bayern.

Stand: 27.01.2023 | Archiv

Charlotte Knobloch, die Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern, Tochter des angesehenen Münchner Rechtsanwalts Fritz Neuland, wird schon als Kind mit dem braunen Rassenwahn konfrontiert. Der Terror der Nazis wird immer spürbarer, auch dem Kind entgeht nicht, was vor sich geht. Ihrem Vater Fritz Neuland entziehen die Nazis die Zulassung als Rechtsanwalt. Charlotte wird bei einer der üblichen Hausdursuchungen von einem Gestapobeamten geohrfeigt, weil sie nicht sagt, wo ihr Vater ist. Sie erlebt mit, wie er beim Spaziergehen auf der Theresienwiese festgenommen wird. Und sie ist Augenzeugin des Pogroms vom 9. November 1938. Ihr Vater hatte einen Wink bekommen und entkam so seiner Verhaftung. Doch die Nazis entwickeln ein perfides System. Die Jüdische Gemeinde selbst muss Personen für Deportationen benennen, etwa für einen "Kinder- und Altentransport" nach Theresienstadt bei Prag. Charlottes über alles geliebte Großmutter Albertine Neuland nimmt den Platz ein, der für die Familie Neuland vorgesehen ist - und rettet damit ihrer Enkelin das Leben.

"Ja, das kann man schon sagen, weil da hat der Chef, der hat bei meinem Vater angeklopft, angerufen, hat gefragt, es ist ein Kindertransport und ein Altentransport und einen muss er auf die Liste setzen, das war dann, dass meine Großmutter, aber das hat sie mir nicht gesagt, das haben die mir auch nicht gesagt, das hab ich alles erst nach 45 erfahren. Die Verabschiedung ist eines der schmerzlichsten Erlebnisse in meinem Leben, weil ich natürlich wusste, dass ich sie nie mehr wiedersehe. Die verabschiedet sich von mir und ich hab furchtbar zu weinen angefangen, sehe noch den Ort in der Wohnung, in der wir damals gelebt haben, wo das war. Sie hat gesagt, sie geht jetzt in Kur und sie kommt dann wieder, wenn sie gesund ist und ich hab gewusst, ich werde sie nie mehr wieder sehen, was ja auch gestimmt hat, weil ich ja das alles kannte. Es ist schwer ein Kind zu belügen und wenn es auch fromme Lügen sind, aber was wollte sie mir sagen. Da hab ich sie das letzte Mal gesehen, wie sie weggegangen ist mit ihrem Koffer in der Hand."

Charlotte Knobloch

Charlotte Knobloch im Gespräch

Charlotte überlebt die Shoah auf einem fränkischen Dorf. Getarnt als katholisches Mädchen. Die sehr fromme Kreszentia Hummel gibt Charlotte als ihre uneheliche Tochter aus und lässt den Spott der Leute und üble Beschimpfungen des Ortsbauernführers über sich ergehen. Sie hofft mit dieser guten Tat auch dazu beizutragen, dass ihre beiden Brüder lebend aus dem Krieg heimkommen, einer aus Nordafrika, einer aus Russland. Und tatsächlich kehren beide gesund zurück.

"Dann war ich plötzlich das außereheliche Kind, der Bankert, das hat sie auf sich genommen, hat aber dem Pfarrer gesagt, wer ich bin, und dazu mit ihrer Frömmigkeit also da haben sie sie ziemlich, wie soll ich sagen, sie haben es ihr ins Gesicht gesagt, es war ja kein Geheimnis: 'Hast jetzt Dein Bankert gebracht?' Der Pfarrer hat das total gedeckt und hat mich auch mehr oder weniger unterrichtet, wie man sich in der Kirche benehmen soll, dass ich immer schauen soll, was die anderen machen, weil er wird schon dafür sorgen, dass ich nicht auffalle."

Charlotte Knobloch

Sich vor dem Zugriff der Nazis zu verstecken, das gelang in der Großstadt Berlin in einigen Fällen, in Bayern nur ganz selten. In Weiden in der Oberpfalz versteckte der Sozialdemokrat Nikolaus Rott die Jüdin Rosa Hofmann in seinem Eisenbahnerhäuschen außerhalb der Stadt. In Oberbayern erlebte die Jüdin Hilde Grünberg auf Bauernhöfen in Schwabruck und Isen unerkannt das Kriegsende. Aber die meisten Überlebenden der Shoah aus Deutschland sind Juden, die ausgewandert sind, solange es noch möglich war. So wie die Familie von Ruth Weiss, die heute in Dänemark lebt. Ruth Weiss ist für ihren Kampf gegen die Apartheid in Südafrika weltweit bekannt. Geboren wurde sie 1924 als Ruth Loewenthal in Fürth. Als die Nazis 1933 die Macht übernehmen, lebt die Familie in Rückersdorf, einem Dorf bei Nürnberg. Von heut auf morgen ändert sich für die kleine Ruth Loewenthal alles. Als Hitler am 30. Januar 1933 zum Reichskanzler ernannt wird, sind ihre Eltern, wie sie sich erinnert, sehr traurig.

"Das erste, was geschah ist, dass mein Onkel, der Bruder meiner Mutter, bewusstlos zusammengeschlagen wurde, weil er seine christliche Freundin in Nürnberg besucht hatte. Man brachte ihn zu uns, meine Mutter pflegte ihn, als es meinem Onkel besser ging, hat mein Vater ihn zur holländischen Grenze begleitet. Es war alles anders wie zuvor, man fühlte sich nicht mehr wohl, man konnte allein nicht auf die Straße gehen. Ich meine, wir Kinder, es wurde uns sogar verboten, auf die Straße zu gehen. Auf dem Weg zur Schule wurde ich zum ersten Mal überfallen von einer Gruppe Jungen überfallen, die zur selben Zeit aus der Volksschule gekommen sind."

Ruth Weiss

Das Leben wird zur Hölle und die Familie entschließt sich auszuwandern. Die meisten Juden emigrieren damals in die USA, nach Palästina, das heutige Israel oder nach Südamerika. Die Familie Loewenthal entscheidet sich für Südafrika. Der Familie gelingt es sogar, nach dem Pogrom vom 9. November 1938 die Großmutter aus Fürth nachzuholen. Ein Bruder ihres Vaters und dessen Frau aber werden deportiert und ermordet. Für die Familie Weiß beginnt in Südafrika ein neues Leben. Die Töchter lernen schnell Englisch, aber die Verhältnisse sind schwierig, die Familie lebt in einem armen weißen Vorort. Und die Welt ist nicht in Ordnung in Südafrika. Gleich nach ihrer Ankunft wird Ruth mit einer anderen Form von Rassismus konfrontiert. Nachbarn beschweren sich, weil ihre Mutter ein schwarzes Kind in die Höhe gehoben hat.

"Das hatten die Nachbarn gesehen und wir hatten in ganz kurzer Zeit das Vergnügen eines Besuchs unserer Nachbarn. Sie erklärten, dass es gegen die Sitten ist ein schwarzes Kind anzufassen. Das hab ich sofort verstanden. In Deutschland durften die deutschen Kinder nicht mit mir spielen und jetzt darf ich nicht mit einem schwarzen Kind spielen."

Ruth Weiss

Ruth Weiss lebt später in London, auch in Köln oder jetzt eben in Dänemark. Als Journalistin und Autorin hat sie ihr Leben lang gegen Rassentrennung gekämpft. Das war auch eine Antwort auf das, was sie in Deutschland erlebt hat.

Ernst Grube

Doch die Mehrheit der deutschen Juden konnte nicht untertauchen wie Charlotte Knobloch oder emigrieren wie Ruth Weiss. Die meisten wurden in Konzentrationslager und Ghettos deportiert. Der erste Transport aus Bayern datiert vom 20. November 1941. Rund 1000 Personen werden an diesem Tag in einen Zug gesteckt und aus München nach Kaunas in Litauen gebracht. Dort werden alle erschossen. Der Transport geht vom Münchner Stadtteil Milbertshofen ab. Hier haben die Nazis eine Barackensiedlung errichtet für die jüdischen Bürger, die sie vorher aus ihren Häusern vertrieben haben. Ernst Grube, ein gebürtiger Münchner musste zunächst in ein jüdisches Kinderheim und wurde danach in das Milbertshofener Ghetto verschleppt.

"In diesem Lager in Milbertshofen war noch so ein altes Kesselhaus und da wurden Menschen, alte Menschen, die halt geistig der ganzen Sache nicht mehr folgen haben können, wurden dann eingesperrt und hingen am Fenster und haben Tag und Nacht geschrien. Und wir standen dann davor, also eine ziemlich furchtbare Geschichte."

Ernst Grube

Als auch dieses Ghetto aufgelöst wird, kommen die Kinder in ein Lager nach Berg am Laim, einem anderen Münchner Stadtteil. Hier sind die Verhältnisse besser, doch dann ist auch hier Schluss - und die Kinder kommen zurück zu ihren Eltern. Dann wird die jüdische Mutter mit ihren drei Kindern noch im Februar 1945 in das Ghetto Theresienstadt bei Prag deportiert. Der nichtjüdische Vater bleibt in München. In Theresienstadt erlebt Ernst Grube, wie Züge mit völlig geschwächten KZ-Häftlingen hier ankommen, als die Lager im Osten geräumt werden. Dann kommt endlich die ersehnte Rote Armee. Die Freude ist unbeschreiblich, berichtet Ernst Grube. Die Gefühle, die in ihm aufkamen, kann er gar nicht genau beschreiben.

"Ich würde gar nicht sagen Freude, ich würde sagen Begeisterung. Das war so die richtige Begeisterung - Zum einen so das Gefühl: 'Jetzt sind wir frei!' und zum anderen: Diese Freiheit verdanke ich diesen Menschen, die hier auf diesem Lastwagen sitzen."

Ernst Grube

Eva Umlauf

"Dr. Eva Umlauf, Fachärztin für psychotherapeutische Medizin" steht auf einem Schild an ihrem Haus in München-Harlaching. Eva Umlauf ist 80 Jahre alt und behandelt noch immer Patienten. Daneben macht sie Lesungen. Das ist ihr Beitrag gegen den immer stärker werdenden Antisemitismus. Der Titel des Buches stammt aus einem Gedicht, das ihr ein Freund gewidmet hat. Es heißt: "Die Nummer auf deinem Unterarm ist blau wie Deine Augen". Gemeint ist die Nummer, die ihr als 2-jährige in Auschwitz auf den linken Unterarm tätowiert worden ist. Eva Umlauf hieß einst Hecht und stammt aus der Slowakei. Ihre Eltern lebten in Trencin und wurden 1942 in Novaky in ein Zwangsarbeitslager für Juden gesteckt. Da ist die Slowakei ein Vasallenstaat Hitlers. In diesem Lager kommt Eva am 19. Dezember 1942 zur Welt. "Du warst ein Zeichen des Lebens", hat ihre Mutter gesagt. Doch zwei Jahre später wird die Familie nach Auschwitz deportiert.

"Wir sind gekommen in den letzten Transport, meine Mutter war schwanger mit meiner Schwester. Man hat nicht mehr vergast aber man hat noch die Aufnahme gemacht man hat uns noch tätowiert. Wir sind angekommen vom 2. auf den 3. November 1944 nach Auschwitz, da hat man nicht mehr vergast. Man muss sich vorstellen, wir kamen drei Tage zu spät und noch am 31. Oktober kam ein Transport aus Theresienstadt, wo 1200 Häftlinge direkt ins Gas gegangen sind, also am 3. November hat man nicht mehr vergast und noch drei Tage vorher haben die Gaskammern gearbeitet."

Eva Umlauf

Die Neuankömmlinge werden dennoch tätowiert, auch die Kinder. Männer und Frauen werden getrennt. An diesem 3. November 1944 sehen Eva und ihre Mutter den Vater zum letzten Mal. Er stirbt im März 1945 in Melk, einem Außenlager des KZ Mauthausen. Eva Umlauf und ihre Mutter aber bleiben in Auschwitz, bis die Rote Armee eintrifft.

In Konzentrationslager verschleppt wurde 1944 auch der ungarische Jude Georg Heller. Wie Charlotte Knobloch, Ruth Weiss oder Ernst Grube hat Heller seine Erinnerungen in einem Buch niedergeschrieben. Er studierte bereits, da wird er als Jude zum Arbeitsdienst der ungarischen Armee eingezogen. 1944 rollen die Züge nach Auschwitz und auch seine Gruppe "Arbeitsdienstler" wird in das Vernichtungslager deportiert. Als dort die Rote Armee näherkommt, wird Auschwitz Ende Januar 1945 geräumt. Die SS treibt Georg Heller und andere Häftlinge auf einem Todesmarsch nach Westen, nach Gleiwitz. Die Überlebenden werden von dort aus in Viehwaggons nach Dachau transportiert.

"Sechs Tage ohne Verpflegung, ohne Essen und Trinken, versuchen Sie mal, also von den 100 Leuten sind wir vielleicht drei oder vier lebend angekommen, die in dem Waggon waren und von den insgesamt 1500 Leuten sind vielleicht 30 lebend angekommen."

Georg Heller

Die nächste Station in der Odyssee des Georg Heller ist das KZ Außenlager Mühldorf am Inn, ein Waldlager zwischen Mühldorf und Ampfing mit rund 4000 Häftlingen. Gegen dieses Lager waren die alten österreich-ungarischen Kasernen, in denen sie in Auschwitz untergebracht waren, purer Luxus, sagt Georg Heller. Kurz vor Kriegsende gelingt ihm gemeinsam mit drei Freunden bei einem Fliegerangriff die Flucht. Die vier verstecken sich in der Nähe von Poign in einer Scheune. Dort haben ihnen ukrainische SS-Leute, die sich aus dem Staub gemacht haben, Maschinenpistolen überlassen. Plötzlich stehen deutsche SS-Männer vor der Scheune und fordern die Häftlinge auf, herauszukommen.

"Und der Serbe hat eine Maschinenpistole genommen, die Tür aufgeschoben und gleich eine Salve losgelassen. Ich habe die andere Pistole genommen, ein bisschen behilflich zu sein. Nach einem Toten sind sie abgezogen, einer ist dortgeblieben, aber ich hab eigentlich würdig den Krieg beendet."

Georg Heller

Die anderen SS-Leute haben sich damals aus dem Staub gemacht, berichtet er. Die SS war weg und wir haben uns zu Schlaf gelegt und am anderen Tag ist Bauer erschienen mit einem Traktor, von weitem geschrien, nicht schießen, ich will euch helfen, in Poign und er hat uns eingeladen. Von da hatten sie zum erstenmal seit vielen Jahren ein anständiges Leben. Doch die schlimme Zeit ist noch nicht ganz vorbei. Am 8. Juni 1945 wird der junge Ungar in das Krankenhaus München-Schwabing eingeliefert. Er hatte sich mit Flecktyphus angesteckt und liegt fast zwei Monate im Koma. Wieder gesund kehrt er nach Budapest zurück und sucht seine Familie. Die war den Deportationen zum Glück entgangen. Georg Heller nimmt sein Studium wieder auf, promoviert 1947 in Mathematik und Physik, hat aber keine Lust, sein Leben als Lehrer oder Beamter zu fristen. In vier Wochen lernt er russisch und arbeitet als Dolmetscher. Doch 1956 kommt es zum Aufstand gegen die kommunistische Regierung. Sowjetischen Panzer rollen durch Budapest. Der Aufstand wird niedergeschlagen, Oppositionelle werden verhört. Georg Heller setzt sich über Nacht nach München ab. Seine Frau und sein Sohn können bald nachkommen, seine Tochter darf aber erst 1963 ausreisen. In München baut sich Georg Heller mühsam eine eigene Existenz auf und wird schließlich als Lektor an der Universität angestellt. Georg Heller ist am 26. September 2022 in München gestorben. Er wurde 99 Jahre alt.


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