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Schuld und Sühne Die "Dachauer Prozesse" - ein Kapitel Rechtsgeschichte

Die "Dachauer Prozesse" sind heute nicht annähernd so bekannt wie die "Nürnberger Prozesse". Doch sie waren die ersten, in denen NS-Verbrecher sich in einem regelrechten Prozess verantworten mussten.

Von: Thomas Muggenthaler

Stand: 13.04.2022 | Archiv

Am 29. April 1945 hat die US-Armee das Konzentrationslager Dachau befreit. Bereits ein halbes Jahr später standen in Dachau SS-Leute vor Gericht, noch bevor in Nürnberg der Prozess gegen die Haupt-Kriegsverbrecher wie Hermann Göring oder Albert Speer eröffnet wurde. In Dachau hatten sich aber auch die Täter anderer KZs zu verantworten. Am Tatort der Schuld wurde die Sühne für die begangenen Verbrechen gefordert und bestimmt. Die Verhandlungen begannen am 15. November 1945, 10.00 Uhr. Das Gericht: Ein amerikanisches Militärgericht unter Vorsitz von Brigadegeneral Lentz. Die Angeklagten: 40 Personen, meist Angehörige der SS. Die Anklage: Grausamkeiten, Misshandlungen, Tötungen, Prügelungen, Folterungen, tätliche Übergriffe, unmenschliche medizinische Experimente an Häftlingen, begangen an Zivilpersonen und alliierten Kriegsgefangenen.

Die Beschuldigten haben auf Stühlen Platz genommen. Der letzte Kommandant des KZ Dachau Eduard Weiter ist nicht dabei. Er ist bei Kriegsende auf der Flucht in Tirol ums Leben gekommen. Auf der Anklagebank aber sitzt Martin Gottfried Weiß, der in Weiden in der Oberpfalz geboren worden ist. Er war der Vorgänger von Eduard Weiter und befehligte das Konzentrationslager in den Jahren 1942 und 1943, bevor er in das KZ Majdanek bei Lublin versetzt wurde. Die Angeklagten haben quadratische Schilder mit Nummern umgehängt. Nr. 1. Der Kommandant des Lagers Martin Gottfried Weiß. Nr. 3. Josef Jarolin, er gab zu, den Befehl zum Erschießen von 700 Häftlingen gegeben zu haben. Er kam aus dem KZ Sachsenhausen nach Dachau und war ein Überzeugungstäter.

"Jarolin ist ja als äußerst brutaler Mensch bekannt, er stammte aus Bayern und kam aus dem Polizeidienst und schon relativ früh in den KZ Dienst gewechselt, also er war einer der frühen SS und NSDAP Mitglieder und kam dann 1938 nach Dachau, der war einfach gefürchtet im Lager."

Albert Knoll von der KZ Gedenkstätte Dachau

Nr. 15. Der Arzt Dr. Claus Karl Schilling. Schilling ist mit Abstand der älteste Häftling. Der 74-jährige Tropenmediziner, der im KZ Experimente an Häftlingen durchgeführt hat, fuchtelt mit den Händen, als ihn der Kameramann filmt. Nr. 27. Fritz Becher wurde als einer der größten Sadisten im Lager bezeichnet. Becher war einer der wenigen Angeklagten, die keine SS-Männer waren. Er war selbst Häftling, gehörte aber zu jener Sorte Häftlinge, die zu einer gewissen Macht gelangt sind und selbst zu Tätern wurden. Als Blockältester im sogenannten Pfarrerblock war er für den Tod einiger Geistlicher verantwortlich.

Nach einem Monat ist der Prozess zu Ende. Am 13. Dezember 1945 verkünden die amerikanischen Militärrichter ihre Urteile. 36 von den 40 Angeklagten werden zum Tod durch den Strang verurteilt; die anderen erhalten Zuchthausstrafen. Die Angeklagten, so führt der Anklagevertreter in seiner Schlussrede aus, haben alle das Recht verwirkt, in der menschlichen Gesellschaft zu leben. Das Todesurteil ist notwendig, damit die Welt erfahre, dass nie wieder solche Verbrechen geduldet werden. 28 der 36 Todesurteile wurden im Laufe des Jahres 1946 im Gerichtsgefängnis Landsberg am Lech vollstreckt. Unter den Hingerichteten waren: Martin Gottfried Weiß, Josef Jarolin, Carl Schilling und Fritz Becher.

Die sogenannte "Alte Schneiderei" der SS, in der die Prozesse stattfanden

Das Militärgericht tagte in der ehemaligen Schneiderei der SS, in der einst Uniformen genäht wurden. Der flache Ziegelbau steht heute noch. Das Gebäude, das heute die "Alte Schneiderei" genannt wird, befindet sich aber nicht auf dem Gelände der KZ-Gedenkstätte, sondern nebenan auf dem Areal der Bayerischen Bereitschaftspolizei. Heute nutzt die Bereitschaftspolizei das Gebäude, um Fahrzeuge unterzustellen.

Landkarte mit Länderflaggen der Besatzungszonen

An einer Wand fällt eine graue Tür auf: EXIT steht hier auf einem Schild. Durch diese Tür gingen die Angeklagten damals in den Gerichtssaal. Am anderen Ende der Halle eine Landkarte in Öl gemalt, die die frühere Situation des Lagernetzes des Konzentrationslagersystems zeigt. Mit Lack überzogen, hat sich die Karte sehr gut erhalten. Das Eck rechts unten fehlt. Vermutlich, weil später eine Tür in den Raum gebrochen wurde. Die Karte ist hellbraun. Mit kleinen Länderflaggen sind die vier Besatzungszonen markiert und mit roten Punkten die früheren Konzentrationslager.

In den drei Jahren von 1945 bis 1948 wurden in Dachau fast 4000 Ermittlungsverfahren durchgeführt und rund 500 Prozesse eröffnet. Über 1900 Personen wurden hier den neuesten Forschungen zufolge angeklagt. Dennoch sind die Prozesse, die damals in Dachau stattfanden, heute relativ unbekannt.

"Es stand immer im Schatten von Nürnberg, und allein die Dimension, wenn Sie die Zahlen der Ermittlungsverfahren und der Prozesse nehmen, zeigt es, wie wichtig diese 'Dachauer Prozesse' waren. Im Gegensatz zu Nürnberg wurden hier eben auch systematisch die Verantwortlichen der großen Konzentrationslager in Dachau abgeurteilt und insofern ist das ein ganz, ganz wesentlicher Punkt der juristischen Bewältigung der KZ-Verbrechen im ehemaligen Reichsgebiet."

Gabriele Hammermann, Leiterin KZ Gedenkstätte Dachau

Frau Hammermann und der KZ-Überlebende Abba Naor vor der Landkarte von damals

In Nürnberg wurde erstmals "Verbrechen gegen den Frieden" und "Verbrechen gegen die Menschlichkeit"angeklagt. In Dachau hat das Gericht dagegen nach sogenanntem "common design" geurteilt. In diesem Zusammenhang galt es nachzuweisen, dass das KZ-System als Ganzes in allen seinen Einzelheiten als verbrecherisches System ausgelegt war. Wer sich also bereit erklärt hat einer solchen Organisation beizutreten, der musste sehen, dass das verbrecherisch war und damit auch persönliche Verantwortung dafür übernehmen.

"Das ist in der bundesrepublikanischen Rechtsgeschichte eben über viele Jahrzehnte nicht passiert, sondern erst jetzt bei diesen letzten Verfahren gegen frühere Täter wieder sehr, sehr wichtig geworden. Die persönlichen Verantwortungen wurden eben in Deutschland über viele Jahrzehnte mit dem sogenannten Befehlsnotstand ausgehebelt."

Gabriele Hammermann, Leiterin KZ Gedenkstätte Dachau

"Wenn der Betrieb des Konzentrationslagers insgesamt als strafbare Handlung etabliert wird durch die Beweisführung, dann ist die wissentliche und willentliche Mitwirkung an dieser Gesamtunternehmung Konzentrationslager eine Straftat ohne dass man im Einzelnen nachweisen muss der Angeklagte X hat am Tag Y den Gefangenen Z misshandelt oder sonst wie Gewalt angetan."

Christoph Thonfeld, Stv. Leiter KZ Gedenkstätte Dachau

Der KZ-Überlebende Abba Naor beim Rundgang zu den ehemaligen KZ Gebäuden

Schon vor der Befreiung sicherten Häftlinge in Dachau Beweise. Sie retteten etwa die Häftlingskartei, als die SS in letzter Minute versuchte, die Spuren ihrer Verbrechen zu vernichten. Überlebende traten auch in den Prozessen als Zeugen auf. Doch in Dachau hatten sich nicht nur die Täter des KZ-Systems Dachau, sondern auch der Konzentrationslager Flossenbürg, Mittelbau-Dora, Mauthausen und Buchenwald zu verantworten. Amerikanische Untersuchungskommissionen fuhren gezielt in die befreiten Konzentrationslager, sicherten Spuren und Beweise für die Verbrechen.

"Vieler der SS-Angehörigen wird man nicht habhaft. Der Großteil des SS-Personals kommt ungeschoren davon. Auch in den folgenden Jahrzehnten."

Jörg Skribeleit, Leiter KZ-Gedenkstätte Flossenbürg

Die Dachauer Prozesse machen das erste Mal die Kriegs-, die Menschheitsverbrechen der Nationalsozialisten öffentlich und justiziabel. Allerdings, und das gilt für alle Prozesse, repräsentierten die hier angeklagten Täter nur die Spitze des Eisbergs. Viele andere wurden nie belangt oder sind untergetaucht.

Die "Alte Schneiderei" wird derzeit als Garage genutzt

Während der Schwurgerichtssaal, in dem die berühmten "Nürnberger Prozesse" stattfanden, heute als Museum genutzt wird, dient die sogenannte "Alte Schneiderei", das Gebäude, in dem die "Dachauer Prozesse" abgehalten wurden, als Garage der benachbarten Bereitschaftspolizei. Auf Dauer aber ist das keine Lösung. Von seiner historischen Bedeutung her sollte die "Alte Schneiderei" ein Ort der Erinnerung sein für ein spannendes Kapitel Zeitgeschichte.


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