Bayern 2 - Zum Sonntag


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Zum Sonntag Nawalny und die Sprengkraft des Glaubens

„Du glaubst? Wie hinterwäldlerisch ist das denn!?! Die Kirchen haben doch abgewirtschaftet, das Christentum auch!“ Oft höre ich solche Sätze. Ich, der ich trotz aller Skandale und trotz aller Unkenrufe noch immer überzeugt davon bin: Der christliche Gaube tut mir und der Gesellschaft gut – in vielerlei Hinsicht. Die mitunter wundersamen Berichte der Bibel sind ja keine Alternativen zum aufgeklärten Weltbild – sie sind Geschichten der Hoffnung auf eine Welt, die jenseits der Berechenbarkeit liegt. Bestenfalls ernte ich mit solchen Aussagen ein mildes, mitleidsvolles Lächeln meines Gegenübers.

Von: Uwe Birnstein

Stand: 22.02.2024

Künftig werde ich ihnen eine ganz aktuelle Geschichte erzählen, die von der ungeminderten Kraft des christlichen Glaubens erzählt. Sie handelt von Alexander Nawalny. Nein, ich werde den russischen Regimekritiker, der für sein Ansinnen den Tod einkalklulierte, nicht in den Heiligenstatus erheben. Mir geht es um eine seiner Reden.

Vor ziemlich genau drei Jahren hielt er sie vor dem Moskauer Stadtgericht. In ihr ist die ganze Sprengkraft des christlichen Glaubens zu spüren. So eindrücklich, dass es mich umhaut. Da stand ein Mann, der keine Angst hatte – weder vor der Richterin noch vor der Strafe, die ihm bevorstand.

Formal ging es in dem Prozess darum, dass Nawalny gegen Bewährungsauflagen verstoßen habe. Alle wussten aber: Hier wurde ein politischer Prozess geführt. Der selbstbewusste Alexander Nawalny war der russischen Machtelite ein Dorn im Auge. Er hatte das Zeug, Putin gefährlich zu werden. Deshalb musste er weggesperrt werden, am besten ein für allemal. Ein Leben in Gefangenschaft stand ihm bevor.

Der Widerstand eines Gläubigen

Warum er trotzdem nicht klein beigab, sondern auf seiner Meinung beharrte? Nawalny erklärte das mit seinem christlichen Glauben. Der Atheist hatte zum Glauben gefunden und war orthodoxer Christ geworden. Ein konservativer übrigens. Dass das feministische Punktrio „Pussy Riot“ eine Kirche zum Schauplatz einer Protestaktion machte, fand Nawalny schrecklich.

Nun, in seiner so bewegenen Verteidigungsrede, erklärte er, warum der Glaube ihn dazu bringe, widerständig zu sein. Er sei ein gläubiger Mensch, sagte er, das helfe ihm bei dem, was er tue. Der Glaube mache alles „viel, viel einfacher“. Zum Beispiel grüble er weniger. Und er versuche, sich an der Bibel zu orientieren. Das klappe nicht immer, aber „im Großen und Ganzen“ schon.

Wegen seines Glaubens werde er oft angefeindet oder verulkt. Einmal habe ihm jemand geschrieben, er könne doch eigentlich beruhigt sein, denn in der Bibel stehe doch: „Selig sind, die da hungert und dürstet nach Gerechtigkeit, denn sie sollen satt werden.“ Ziemlich abgedreht mag sich dieses biblische Versprechen für sogenannte moderne Menschen anhören, sinnierte Nawalny weiter. Aber diese Seligpreisung sei tatsächlich „aktuell die bedeutendste politische Idee in Russland“. Sie mache Hoffnung, dass die Gerechtigkeit letztlich doch siegen werde.

Gerechtigkeit über den Tod hinaus

Nawalny lebte einsam. Sehr einsam. Es kursieren Bilder von der Zelle, in der er viele Monate verbringen musste. Zwei mal drei Meter. Stein. Dunkel. Eine einfache Holzpritsche. Morgens nach dem Wecken um fünf Uhr musste er die Matratze einrollen und das Bett hochklappen. Als Toilette diente ein Loch im Boden. Um halb sieben durfte – oder musste – er an die frische Luft, auch bei eisigen Temperaturen. Schikane und Gewalt bestimmten seinen Alltag, bezeugen andere Häftlinge. Zum Verrücktwerden.

Ein Video zeigt Nawalny am Tag vor seinem Tod. Er ist hinter einem Gitter zu sehen, deutlich abgemagert. Doch er lacht. Vermutlich, weil er wusste: Die Gerechtigkeit wird auch dann siegen, wenn er getötet wird. Und weil er als Christ überzeugt war: Es ist was dran an dem „Selig-Sein“, das denen verheißen ist, die sich für Gerechtigkeit starkmachen. Auch über das irdische Leben hinaus. Wie er gestorben ist, ist noch unklar. Klar ist nur: Alexander Nawalnys Tod war ein politischer Mord, angeordnet aus dem Kreml.

Ein Christ bietet den Unrechtsherrschern die Stirn – weil er keine Angst hat und überzeugt ist von der Botschaft Jesu. Nein, das Christentum hat nicht abgewirtschaftet. Seit Anbeginn verleiht der Glaube Menschen eine Kraft, die ausreicht, um Mauern und Bastionen der Ungerechtigkeit zum Einsturz zu bringen. Es ist nur eine Frage der Zeit. Auch in Russland.


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