Bayern 2 - Zum Sonntag


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Zum Sonntag Von den Straßen-Kleber:innen lernen

Immer wieder kleben sich Aktivisten der "letzten Generation" auch auf Münchner Straßen. Heftig wird über diese Form des gewaltfreien zivilen Ungehorsams debattiert. Zeit für ein Zwischenfazit über die öffentliche Debatte, meint Olivia Mitscherlich-Schönherr.

Von: Dr. Olivia Mitscherlich-Schönherr

Stand: 26.11.2022

Olivia Mitscherlich-Schönherr | Bild: O. Mitscherlich-Schönherr

Seit einem Monat kleben sich Aktivist:innen der "letzten Generation" nun auch auf Münchner Straßen. Heftig wird über diese Form des gewaltfreien zivilen Ungehorsams debattiert. Zeit für ein Zwischenfazit über die öffentliche Debatte.  

Als Öffentlichkeit schneiden wir nicht gut ab. Anstatt über die berechtigten politischen Anliegen der letzten Generation zu diskutieren, führen wir Paralleldebatten: über die angeblichen demokratischen Defizite der Aktivist:innen; darüber, ob Straßenblockaden unter den Straftatbestand der Nötigung fallen; und ob Sicherungsgewahrsam zur Vorbeugung solcher Aktionen zulässig sei und verhängt werden soll. Dieses Am-Eigentlichen-Vorbeireden trägt pathologische Züge: angesichts der Prognosen des Weltklimarats und der Tatsache, dass in diesem Jahr weltweit mehr CO2 ausgestoßen wurde als jemals zuvor. Im Laufe der vergangenen Wochen musste man den Eindruck gewinnen, dass diese Scheindebatten von eigenen Unzulänglichkeiten und Verfehlungen ablenken sollen.

Zur Autorin:

Olivia Mitscherlich-Schönherr ist lehrt Philosophische Anthropologie in München und erforscht die Grenzfragen menschlichen Lebens

Wir reden am Eigentlichen vorbei

Die Defizite, auf die die letzte Generation aufmerksam macht, sind politischer Natur. Die Aktivist:innen stören die öffentliche Ordnung in Antwort auf die demokratischen Defizite, die die nationalen Klima-Politiken zeitigen. Die deutsche Klima-Politik wird undemokratisch, indem die Bundesregierung zentrale klimapolitische Wahlversprechen nicht umsetzt. Zur Erinnerung:  vor einem guten Jahr haben wir die Ampel-Parteien mehrheitlich auch wegen ihres Bekenntnisses zum 1,5 Grad-Ziel des Pariser Klimaabkommens gewählt. Im letzten Jahr hat sich nun gezeigt: die Regierung tut bei weitem nicht genug, um dieses Wahlversprechen einzulösen. Ganz offensichtlich meint die Regierung, die dringend anstehenden Transformationen ihren Wähler:innen nicht zumuten zu können; durch eine konsequente Klima-Politik ihre Wiederwahl zu gefährden.

In diesen inneren Widersprüchen wird die Klima-Politik der Bundesregierung undemokratisch – und nicht etwa der außerparlamentarische Widerstand gegen diese Politik, wie in den verworrenen Debatten der letzten Wochen oft zu hören war. Wenn die letzte Generation die Regierung mit ihren Aktionen zum Handeln bewegen will, dann verbindet sie die Sorge ums Klima mit der Sorge um unsere Demokratie.

Proteste ernstnehmen statt sie gewaltsam zu unterdrücken

Als Gesellschaft täten wir gut daran, den außerparlamentarischen Protest der letzten Generation endlich ernst zu nehmen. Ein hartes Durchgreifen bei Aktionen des gewaltfreien Ungehorsams birgt nämlich nicht nur die Gefahr weiterer Radikalisierung. Dabei ließe sich an vieles denken, woran man lieber nicht denken will: neben Anschlägen auf die Yachten, Privatflugzeuge, SUVs der Superreichen auch an Anschläge auf Pipelines, Ölraffinerien, Konzerne der Fossil-Industrie.

Darüber hinaus heißt, allein mit Unterdrückung auf die Störung der öffentlichen Ordnung zu reagieren, die Klima- und Demokratie-Probleme weiter zu verschärfen, gegen die die letzte Generation aufbegehrt: dass unsere Repräsentant:innen die grundlegenden Transformationen unseres sozialen Miteinanders und Wirtschaftens nicht angehen, die zur Einhaltung des 1,5 Grad-Ziels notwendig wären.

Für mehr demokratische Partizipation

Jetzt ist geboten: die Herausforderungen, mit denen die letzte Generation konfrontiert, mit konkreten politischen Schritten zu beantworten. Dringend müssen die anstehenden sozio-ökonomischen Transformationen gebahnt und zugleich neue Institutionen der demokratischen Partizipation geschaffen werden – da eine Erneuerung unseres sozialen Lebens und Wirtschaftens nur zusammen mit der Erneuerung unserer Demokratie gelingen kann.  

Wenn wir diese politischen und sozialen Herkules-Aufgaben jetzt angehen, dann würde aus der letzten vielleicht eine erste Generation: die erste Generation einer demokratisch-partizipativen Post-Wachstums-Gesellschaft. Den jungen Menschen, die sich gegenwärtig auf die Straße kleben, wäre es zu gönnen.


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