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Der nackte Wahnsinn Ist Schultheater mehr als nur Theater in der Schule?

Zwischen Abistress und Matheklausuren ein Theaterstück auf die Bühne bringen – die Theatergruppe des Nürnberger Melanchthon-Gymnasiums war dem "nackten Wahnsinn" auf der Spur. Welchen Stellenwert hat das Schultheater dabei für die Schülerinnen und Schüler?

Von: Anja Scheifinger

Stand: 12.04.2023 | Archiv

Ein ganz normales Klassenzimmer. Auftritt: die Oberstufe der Theatergruppe des Nürnberger Melanchthon-Gymnasiums und ein Lehrer. Sie rücken Stühle und Tische zurecht. Wenn sich wie jeden Montagnachmittag das Klassenzimmer in einen Probenraum verwandelt hat, kann's losgehen: Deutsch-Lehrer Marcus Spangehl beginnt mit Aufwärmübungen – heute fordert er Gefühle von seinen Akteurinnen und Akteuren. "Wir schauen beim Theater ja immer, dass wir etwas mit Überzeugung rüberbringen, was wir nicht so meinen", so die Erklärung.

Die Darsteller: sieben Schülerinnen, zwei Schüler

In diesem Schuljahr besteht die Oberstufen-Theater-AG aus sieben Schülerinnen und zwei Schülern. Sie schleudern sich Hasssätze entgegen, dann Entschuldigungen – um sich schließlich zu umgarnen. Im Spiel, versteht sich. Wenn sich alle warm gespielt haben, geht es ans Stück. Ein paar Tische sind Platzhalter für Türen, die es noch nicht gibt. Eine Schülerin, Smilla aus der 11. Klasse, ist schon recht schrill kostümiert. Warum ist sie hier?

"Einerseits müssen wir Stunden füllen, andererseits ist es etwas Schönes, Theater zu spielen und aus sich selber rauszukommen und ein paar Sachen zu überwinden und zu sagen, ich gehe auf die Bühne."

Smilla, Schülerin

Das Stück: "Der nackte Wahnsinn" von Michael Frayn

Smilla spielt eine der Hauptrollen im Stück – da hat sie also viel Gelegenheit, "ein paar Sachen zu überwinden". Die Darstellerinnen und Darsteller halten ihr Textbuch in den Händen, die Komödie "Der nackte Wahnsinn" von Michael Frayn.

"Wir haben verschiedene Texte, die wir durchschauen konnten und wir konnten uns entscheiden, was wir nehmen. Wir haben uns vor allem nach den Zwölftklässlern gerichtet, so dass es für die von den Zeiten passt und sie nicht zu viel Text haben. Damit sie fürs Abi lernen können. Es ist der nackte Wahnsinn geworden, weil es etwas Humorvolles ist, nicht so was Ernstes. Wir spielen ein Stück im Stück – dass wir ein Theaterstück proben, alles schiefgeht und was wir eigentlich verbessern müssten."

Viktoria, Schülerin

Viktoria spielt Haushälterin Miss Dotty, deren Lebensinhalt der Verzehr von Sardinen ist. Und die stehen auch schon parat – so ungefähr zumindest: der Teller mit den Fischen ist im Moment noch ein Teller mit Schokoriegeln. Alle wuseln durcheinander, suchen sich ihre Requisiten zusammen - ganz normales Probenchaos.

Der Spielleiter: Deutsch- und Geschichtslehrer Marcus Spangehl

Für den Deutsch- und Geschichtslehrer Marcus Spangehl ist "Der nackte Wahnsinn" die 20. Aufführung als Regisseur. Oder besser gesagt: als Spielleiter.

"Der Spielleiter ist eher derjenige, der den Schlüssel in der Hand hat und dafür sorgt, dass Requisiten vorhanden sind, dass der zeitliche und organisatorische Ablauf funktioniert. Natürlich mische ich mich dann schon auch ein, aber das müsste von Schülerseite kommen, weil wir ganz viel Grundlagenarbeit im Vorfeld machen. Alle Elemente des darstellenden Spiels werden angesprochen und eingeübt: Mimik, Gestik, Sprache, Choreografie, Bewegung im Raum. Daraus müssen die Schüler sich eine Idee des Stückes entwickeln."

Marcus Spangehl, Regisseur

Marcus Spangehl sieht es gelassen, dass vieles noch nicht funktioniert, es sind ja noch sieben Wochen bis zur Premiere. Schließlich muss sich das Theater dem Schulalltag anpassen – mit allen Widrigkeiten, die das mit sich bringt: Geschichtsproben, für die eigentlich gelernt werden müsste, die Matheklausur am nächsten Morgen – bis hin zu den Abi-Vorbereitungen für die Zwölftklässler. Daher übernehmen die Spielerinnen und Spieler aus der 11. Klasse die aufwändigeren Rollen und überlassen den Zwölftklässlern die Passagen mit wenig Text, damit sie Auswendiglernen und Theaterproben trotz des Schulalltags wuppen können.

Braucht Schule überhaupt Theater?

Szenenwechsel: Ein Probenraum, ungefähr doppelt so groß ist wie ein Klassenzimmer - und leer. Auftritt: der Pädagogikprofessor Leopold Klepacki.

"Das ist auch eine Eigenheit von Schultheater, dass es in vielerlei Hinsicht in einer produktiven Art manche schulischen Rahmen und Strukturen entgrenzt oder auf die Probe stellt, weil das Theater in mancherlei Hinsicht nicht so ganz reinpasst."

Leopold Klepacki, Pädagogikprofessor

Der Raum auf dem ehemaligen AEG-Gelände in Nürnberg gehört zum Institut für Pädagogik der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, und ist ein Spielplatz im Wortsinn, zum Beispiel wenn angehende Lehrerinnen und Lehrer darstellendes Spiel studieren möchten. Der Leiter des Instituts, Leopold Klepacki beschäftigt sich seit 20 Jahren mit Schultheater und forscht unter anderem über Schule als kulturellen Bildungsort. Braucht Schule überhaupt Theater?

"Die schulischen Fächer haben ja – das kommt Schülerinnen und Schülern manchmal ein bisschen anders vor – nicht nur einen Selbstzweck. Mathematik eröffnet die Möglichkeit, die Welt zu verstehen. Genauso wie das mit Chemie und Englisch ist. Und ich kann mich mit der Welt auseinandersetzen und finde Zugänge zur Welt. Da spielen die Künste meiner Meinung nach eine ganz zentrale Rolle. Und das Theater insofern, weil es die Eigenheit beinhaltet, dass ich mich auf einer körperlichen Ebene mit Wirklichkeit auseinandersetzen kann und dass ich Wirklichkeit gestalten kann. Der andere spannende Punkt ist die Auseinandersetzung mit Traditionen von Theater, mit Spielformen, mit Ideen, was Theater sein kann."

Leopold Klepacki, Pädagogikprofessor

Eine besondere Spielform zeigt "Der nackte Wahnsinn" – das Stück, das sich die Oberstufen-Theater-AG des Melanchthon-Gymnasiums vorgenommen hat. Darin bereitet sich eine Theatergruppe auf die Premiere vor. Es ist ein Spiel im Spiel, das mit dieser Grenze spielt zwischen: was ist echt, was ist Theater?

Pannen und Theater hinter den Kulissen

Theaterproben zu einer Komödie. Im Probenprozess heißt das: Theaterproben zu Theaterproben zu einer Komödie. Da ist es nicht so einfach als Zuschauerin zu erkennen: Was steht im Textbuch? Also was läuft tatsächlich in der Probe schief und was MUSS laut Skript schief laufen - bei einem Stück, das mit Pannen und Theater hinter den Kulissen spielt.

Montagnachmittag ein paar Wochen und Probeneinheiten später. Auftritt: 3 Schülerinnen und ein Schüler. Spannung knistert in der Luft – in 10 Tagen ist Premiere.

"Wir schreiben jetzt noch vier oder fünf Klausuren bis zu den Osterferien und nächste Woche ist die Aufführung und ich habe sehr viel Text. Ich bin sehr unter Zeitdruck."

Hanna, Schülerin

Deutschlehrer und Theater-AG-Leiter Marcus Spangehl kommt zur Probe, lachend und zweifelnd zugleich, mit einer Büchse Sardinen, die er gerade in seiner Mittagspause beim Supermarkt nebenan erstanden hat. Hanna, Denis, Julia und Laura umringen ihn und schauen etwas skeptisch. Eigentlich wollten sie die Fische fürs Theaterplakat fotografieren, aber das muss wohl noch eine Weile warten, bis jemand ganze Sardinen mit Köpfen besorgt hat. Marcus Spangehl wahrscheinlich – er macht solche Botengänge, um seine Schülerinnen und Schüler auf der einen Seite zu unterstützen. Gleichzeitig setzt er auf deren Eigenständigkeit und Eigenverantwortung. Dazu gehört, dass sie sich nicht nur das Stück, sondern auch die Rollen selber aussuchen.

"Wenn das Stück einmal durchgelesen wurde, dann hat jeder schon so eine Sympathie für eine Figur entwickelt und weiß, wen er gerne spielen würde. Das machen wir über Zettelabgabe. Jeder darf 2 bis 3 Zettel hinlegen, und dann wird ausdiskutiert. Wenn 2 Personen eine Figur spielen wollen, dann muss gecastet werden, dann spielen die ihre Rollenbiografie kurz vor und sie zeigen, wie sie sich ihre Rollen vorstellen."

Marcus Spangehl, Regisseur

Es ist noch ein bisschen was zu tun bis zur Premiere am Donnerstagabend. Die drei Tage zuvor werden ganz dem Theater gewidmet – fast. Lehrer Marcus Spangehl muss seinen regulären Unterricht natürlich trotzdem halten. Und auch die Schülerinnen und Schüler hüpfen hin und her: Kostüme ausprobieren – Englischklausur – Zweiter Akt Durchlauf – Latein – schnell ein Pausenbrot zwischenrein – letzter Schliff Requisite. Aber keiner möchte die Zeit missen.

Die Geschichte des Schultheaters

Zwischenspiel. Auftritt noch einmal Pädagogikprofessor Leopold Klepacki. Er hat einen Ausflug in die Geschichte des Schulspiels im Gepäck. Später kommt die historische Figur des Philipp Melanchthon hinzu und winkt aus der Ferne.

"Die Reformationszeit und dann auch die Reaktion darauf, die katholische Reformation, das ist eine Zeit, in der wir historisch Schultheater bereits nachverfolgen können. Seit dem 17. Jahrhundert ist es in Lateinschulen, in höheren Schulformen nachzuvollziehen. Da ist das keine ästhetische Kunstform, sondern es geht darum, sich mit den lateinischen Texten auseinanderzusetzen und mit den ethisch-moralischen Inhalten der antiken Schriftsteller – auch auf der Ebene der Eloquenz, mit der lateinischen Sprache umzugehen."

Leopold Klepacki, Pädagogikprofessor

Ob die Schülerinnen und Schülern wissen, dass der Namensgeber ihrer Schule, Phillip Melanchthon, sich für eine allgemeine Schulbildung stark gemacht hat, in dem das Schultheater einen wichtigen Platz einnimmt? Der Pädagogikprofessor Leopold Klepacki spannt den Bogen über die Jahrhunderte, vom Schultheater, das vor allem moralische Fragen in den Mittelpunkt stellt, zur Aufklärung, in der der erzieherische Gehalt der Stücke im Vordergrund steht. Im 20. Jahrhundert wandelt sich Schultheater erneut – das Gemeinschaftserlebnis steht jetzt im Vordergrund.

"Da wurde der soziale Aspekt Zusammen-Theater-Machen sehr sehr deutlich. Es gibt etliche reformpädagogische Vertreterinnen und Vertreter von Schultheater, die diesen Gemeinschaftsaspekt als bedeutsam gesehen haben, auch um das hervorzubringen, was wir Schulgemeinschaft oder Schulkultur nennen."

Leopold Klepacki, Pädagogikprofessor

Der soziale Aspekt des Schultheaters: neue Rollen, neue Talente

Auch für Denis steht der soziale Aspekt wichtig, - er ist der Grund, warum er schon zum zweiten Mal in der Melanchthoner Theater-AG mitmacht.

"Ich hatte schon das Gefühl, dass ich im Alltag wenig sozialen Kontakt hatte und ich dachte: Theater könnte mir helfen, dass ich mit Menschen besser zurechtkomme und auch ein bisschen aus meiner Schale rauskomme. Einfach Theater machen, wo ich vor mehreren Leuten aufführe."

Dennis, Schüler

Manchmal haben die Schülerinnen und Schüler in der Klasse eine ganz andere soziale Rolle als in der Theatergruppe – und sie entdecken neue Talente in sich. Einer malt zum ersten Mal ein Bühnenbild, eine andere kann gut organisieren, schminken oder die Technik bedienen. Die Schule kann der Ort sein, an dem jemand zum ersten Mal mit Theater in Berührung kommt.

Schultheater kann heute eine Spielwiese sein – mit vielen Möglichkeiten. Zum Beispiel können improvisierte Performances Themen wie Handykonsum, Twitter usw. Rechnung tragen und in die Theaterarbeit mit hineinnehmen. Daraus könnten sich eigene Stücke entwickeln. In einem ganz normalen Schulbetreib mit zwei Theater-Stunden pro Woche vielleicht eher schwierig – das Melanchthon Gymnasium jedenfalls setzt da noch auf die klassische Form.

Die Premiere: "Wird schon schiefgehen!"

Auf der Bühne stehen die mit Goldfolie aufgehübschten Pappkarton-Türen – sie haben sogar Türklinken, lassen sich öffnen und schließen. Ein Sofa mit Tischchen, ein Bildschirm – das ist alles. Eine Geruchsspur lockt neben die Bühne: ein Teller mit Sardinen. Den Echten. Fischgeruch inklusive. Je nach Typ laufen manche Schauspieler und Schauspielerinnen betont ruhig oder in nervöser Anspannung auf der Bühne hin und her. Andere ziehen sich um im Schminkraum. Noch fünf Minuten bis zum Einlass. Die Zuschauer stehen schon vor der Tür, Marcus Spangehl trommelt seine Truppe noch ein letztes Mal auf der Bühne zusammen. Alle schreien "wird schon schiefgehen" – und dann geht’s los.

Die Zuschauer und Zuschauerinnen sind stolz auf ihre Enkel, Kinder und Geschwister, die für einen Abend als Schauspieler alles aus sich herausgeholt haben – und die Akteure selbst? Sind hinterher ein bisschen traurig, dass es vorbei ist. Ihnen hat es richtig Spaß gemacht und nun wollen sie feiern, dass dieser Abend so gut gelungen ist. Dass sie die Zuschauer zum Lachen gebracht haben. Und dass sie sich aufeinander verlassen konnten. Morgen beginnt dann wieder der ganz normale Schulalltag.


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