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"Solenoid" Der neue Roman des Meistererzählers Mircea Cărtărescu

Ein junger Lehrer in einer Vorstadt von Bukarest, heimgesucht von Albträumen. Eine Magnetspule, die magische Kräfte freisetzt. Und ein Roman wie in Trance. "Solenoid", der neue 900-Seiten-Roman von Rumäniens preisgekröntem Meistererzähler Mircea Cărtărescu oszilliert zwischen Wirklichkeit und Traum, Realem und Surrealem, ein sprachgewaltiges Geschichtenuniversum. "Atemraubend," sagt Cornelia Zetzsche. Ein Opus Magnum, in dem es um alles geht.

Von: Cornelia Zetzsche

Stand: 01.11.2019

Mircea Cartarescu | Bild: picture-alliance/dpa

"Solenoid" - ein Roman wie in Trance

"Als ich dieses Buch schrieb, entdeckte ich, dass eine Welt, in die Menschen entfliehen können, nicht in einer vierten Dimension liegt, nicht in einer Traumwelt, sondern in etwas, das weit verbreitet ist in der Welt, in die Liebe füreinander", erzählt Mircea Cărtărescu im Gespräch. Wie in seiner Trilogie "Orbitor", für die der rumänische Schriftsteller 2015 mit dem "Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung" ausgezeichnet wurde: "Dieses monumentale, exzessive und alle Grenzen sprengende Prosa-Werk ist zugleich Künstler-, Großstadt- und Weltroman, es übersteigt aber die Realität auf surreale, halluzinatorische und visionäre Weise," so die Jury damals, treibt Cărtărescu in seinem neuesten Roman "Solenoid" seine magische Erzählkunst weiter, in andere Dimensionen, in phantastische, metaphysische Welten.

"Ich dachte an Träume, an Besucher, an diesen ganzen Wahnsinn, aber jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt. Vorerst muss ich zurückkehren zur Schule, in der ich, sieh an, schon seit mehr als drei Jahren arbeite. 'Ich werde nicht mein ganzes Leben Lehrer sein', sagte ich mir … Aber sieh, es ist kein Wunder geschehen, und alles deutet darauf hin, dass es genauso weitergeht."

aus: 'Solenoid' von Mircea Cărtărescu

Ein namenloser Ich-Erzähler schreibt, im Schatten seines Autors und buchstabiert sein Leben: als kränkelndes Arbeiterkind, in Kliniken malträtiert und geängstigt; als junger Dichter verlacht für sein erstes Gedicht; als Lehrer gestrandet in der Allgemeinschule Nr.86, in der armseligen Peripherie von Bukarest. Als Außenseiter lebt er allein, heimgesucht von Albträu-men in einem seltsamen schiffsartigen Haus, imaginiert Milliarden möglicher Ichs, liest und schreibt sich mit seinem Tagebuch aus dem „bedrückenden Gefängnis“ des Alltags in eine irreale Realität.

"Ich las viel Dichtung, die ich auch lauthals auf der Straße rezitierte, so dass die Leute mitfühlend den Kopf umwandten …"

aus: 'Solenoid' von Mircea Cărtărescu

Schriftsteller Mircea Cărtărescu

Dieser Erzähler ist ein manischer Schreiber, ein obsessiver Leser von klein auf – wie sein Autor Mircea Cărtărescu: "Ich hatte keine Intellektuellen in meiner Familie, ich bin der erste. Meine Eltern waren Arbeiter, meine Großeltern Bauern, es geschah einfach. Ich hatte keine Bücher zu Hause, ich baute mir mein eigenes Bücherregal, meine erste Bibliothek. Es war einfach in mir. Wörter faszinierten mich schon in frühester Kindheit."

„Ich lebe zwischen zwei Glasplatten“, klagt der junge Lehrer, ein einsamer Zwilling, mit 24 Jahren 48 Kilo leicht. Er irrt durch die grünen Flure der schmuddeligen Schule in der Diktatur Ceausescus, durchs grün-olive Licht der Alten Fabrik, den schwarz-grünen Schlamm des trostlosen Viertels, das medizinhistorische Museum, durch die Hyperarchitektur seiner Organe, die Katakomben des Geistes und gespenstische Träume. Er porträtiert unvergessliche Figuren wie den Zwillingsbruder, der früh starb; Schulkinder wie Sklaven, das Panoptikum der Kollegen, den Werklehrer und Zigeuner, so heißt es, der sich mit der Zange seinen Goldzahn ausreißt, um den vermeintlich gestohlenen Goldring zu ersetzen. Der Erzähler beobachtet das Ballett seiner Hände, er halluziniert und levitiert und schwebt über dem Bett, dank eines Solenoiden, einer Magnetspule mit magischer Wirkung im Haus. Der Schauplatz ist Bukarest das strahlende Zentrum, die elende Existenz am Rande, das Panoramafenster seiner Jugend aus früheren Romanen.

"Eher noch war ganz Bukarest, die traurigste Stadt auf dem Erdenrund, schon von allem Anfang an als Ruine geplant gewesen, als saturnisches Zeugnis einer Zeit, die ihre eigenen Kinder zerfleischt."

aus: 'Solenoid' von Mircea Cărtărescu

Erlösung gibt es nicht, das Leben ist ein "anhaltender Schrei aus Höllenschlünden". Immerhin wird das einsame Haus am Ende mit Frau und Kind zum Heim. Mircea Cărtărescu wurde nicht grundlos als rumänischer Proust, als James Joyce aus Bukarest gefeiert. „Solenoid“ ist überbordend in seinem Farbrausch der Grün- und Opaktöne, mit der Fülle schillernder Orte, Figuren, Episoden und Phantasmagorien; ein Roman wie in Trance, ein großer Wurf, atemraubend, autobiographisch grundiert, zwischen Gewalt und Traum, Wahrnehmung und Illusion Ekel und Poesie.

Mircea Cărtărescu: "Bis heute habe ich nicht das Gefühl, Romane oder Geschichten zu schreiben. Ich habe mein Schreiben immer als poetisches Schreiben gesehen. Ich bin Dichter - in allem, was ich schreibe, in allem wie ich lebe. Ich sehe die Dinge als Poet. Auch die Romane sind lange Gedichte, und ich schreibe sie, wie man Gedichte schreibt, es ist eine Frage andauernder Inspiration. Ich schreibe nur, wenn ich das Gefühl habe, mit meinem Schreiben kann etwas Wichtiges gesagt werden."

Lesung und Gespräch im "Offenen Buch"

Lesung mit Martin Feifel

"Die stärkste Definition von Realität in Solenoid besagt, Realität ist Schmerz. Das Einzige, was wir als Realität wahrnehmen, sind Dinge, die uns schmerzen, die uns auf die eine oder andere Art beeindrucken. Je mehr Leiden es in der Welt gibt, umso brutaler ist die Welt, bis sie zu einem wirklichen Gefängnis für die Menschen wird, aus dem jeder zu entfliehen hofft, mit Hilfe von Religion oder Magie oder mit Hilfe der Poesie und allen anderen Wegen", erzählt Mircea Cărtărescu im "Offenen Buch".
Das ganze Gespräch gibt es am Sonntag, dem 10. November, auf Bayern 2.
Der renommierte Schauspieler Martin Feifel liest einen Auszug aus "Solenoid", das in der Übersetzung von Ernest Wichner im Zolnay Verlag erschienen ist.
Redaktion und Moderation: Cornelia Zetzsche

radioTexte - Das offene Buch. jeden Sonntag um 12.30 Uhr auf Bayern 2

Mircea Cărtărescu, der rumänische Proust

Mircea Cărtărescu wurde am 1. Juni 1956 in Bukarest geboren. Er stammt aus einfachen Verhältnissen. Seine Welt war immer die Literatur, die Realität nur Nebenschauplatz, erzählt er. Aufgewachsen in Bukarest studiert er nach dem Abitur Philologie und unterrichtet mehrere Jahre als Lehrer, eine Hochschulkarriere konnte er erst nach dem Regimewechsel verwirklichen. Er arbeitete als Literaturkritiker, Herausgeber und Mitgestalter mehrerer Zeitschriften, heute lehrt er an der Universität in Bukarest rumänische Sprache und Literatur. Seine schriftstellerische Vorliebe galt bis 1989 ausschließlich der Poesie. Der Gedichtband "Scheinwerfer, Schaufenster, Lichtbilder" brachte ihm 1980 den Preis des Rumänischen Schriftstellerverbandes. Seither gehört er mit seinen literarischen Werken wie zum Beispiel "Nostalgia" oder dem Erzählband "Warum wir die Frauen lieben" zu den bekanntesten rumänischen Schriftstellern der Moderne.


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