Bayern 2 - radioTexte


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Lesung mit Gert Heidenreich Michel de Montaigne kurt und tourt

Ein Jahr, fünf Monate und acht Tage reiste Michel de Montaigne quer durch Europa im Sattel und auf Straßen und Wegen, die das Reisen nicht gerade zum Vergnügen machten. Nichtsdestotrotz trieben Reiselust, Unrast und sehr konkrete Nierenbeschwerden den französischen Philosophen und Begründer der Essayistik an. Lesung mit Gert Heidenreich

Von: Kirsten Böttcher

Stand: 25.04.2019 | Archiv

Michel de Montaigne | Bild: picture-alliance/dpa

"Die Welt ist nichts als ein ewiges Auf und Ab. Selbst die Beständigkeit ist bloß ein verlangsamtes Schaukeln. So vermag ich den Gegenstand meiner Darstellung nicht festzuhalten, denn auch er wankt und schwankt in natürlicher Trunkenheit einher. Deshalb nehme ich ihn jeweils so, wie er in dem Augenblick ist, da ich mich mit ihm befasse. Ich schildere nicht das Sein, ich schildere das Unterwegssein - von Tag zu Tag, von Minute zu Minute."

(Essais, Michel de Montaigne, 1580)

So wie die Welt "wankt und schwankt", ist auch das eigene Ich, die Seele, äußerst veränderlich, resümiert der Autor der berühmten "Essais", dem Ergebnis einer achtjährigen Seelenrecherche und Autobiografie, die in ihrer experimentellen Art eine neue literarische Gattung benennen sollte: die der Essayistik. Im Erscheinungsjahr seines heute zum Klassiker avancierten Werks ist Michel de Montaigne 47 Jahre alt und leidet schon seit drei Jahren an Nierenkoliken - an denen er selbst wahrscheinlich nicht ganz unschuldig war.

"Ich habe, gesund oder krank, mich stets bereitwillig den Gelüsten überlassen, die sich gerade dringend in mir regten. Ich räume meinen Neigungen und Begierden maßgeblichen Einfluss ein. Ich liebe es nicht, Übel mit Übel zu kurieren. Ich hasse Heilmittel, die beschwerlicher sind als die Krankheit. Mit einer Nierenkolik und gleichzeitig dem Verbot geschlagen zu sein, sich dem Genuss von Austern hinzugeben, das sind zwei Übel für eins."

(Michel de Montaigne)

Kaum waren also die "Essais" erschienen, brach Michel de Montaigne zu seiner großen Reise auf, der wir sein "Tagebuch der Reise nach Italien über die Schweiz und Deutschland von 1580 bis 1581" verdanken. Ob in seiner seiner Turmbibliothek des Familiensitzes Château de Montaigne im Südwesten Frankreichs, wo er sich jahrelang seinem essayistischen Projekt widmete oder auf seiner Tour durch Europa: Das Unterwegssein gehörte für Montaigne zum Dauerzustand seiner Existenz.

"Wenn es rechts nicht schön ist, geht es nach links; wenn ich mich nicht in der Lage sehe, mein Pferd zu besteigen, halte ich an. Habe ich vergessen, etwas anzuschauen? Ich kehre um; so finde ich immer meinen Weg. Ich plane keine Linie im Voraus, weder die gerade noch die krumme."

(Michel de Montaigne)

Michel de Montaigne besuchte u.a. Augsburg - damals galt die Stadt als eine der schönsten in Deutschland.

Montaignes genauer Blick in toleranter "Aufmerksamkeit und Gelassenheit" lässt sein Reisetagebuch zur vitalen Quelle der Kulturgeschichte werden – wobei ihn Kunstführerqualitäten und Berichte über Sehenswürdigkeiten wenig interessieren. Er nimmt Landschaft, Land, Leute und Lebensweisen in Augenschein – mit Hochachtung vor dem »niederen Volk«: Koch- und Tischsitten in den Gasthöfen haben es ihm angetan, er studiert die Bordelle oder erlebt Hinrichtungen und Teufelsaustreibungen.

"So habe ich gerade mit großem Interesse die Reisebeschreibungen Montaignes gelesen: Sie bereiten mir an manchen Stellen noch mehr Vergnügen als selbst seine Essais."

(Johann Wolfgang von Goethe)

Kaum eine Gelegenheit zu Trink-, Bade-und Schwitzkuren lässt der reisende Humanist aus – gequält von seinem Nierenleiden. So gut wie auf dieser Reise fühlte er sich nie.

"Jede Tagesetappe ist mir Ziel genug"

Gert Heidenreich

von Michel de Montaigne

am 30. April in den radioTexten am Dienstag, kurz nach 21.00 Uhr auf Bayern2

Aus dem Reisebericht des berühmten Humanisten liest Gert Heidenreich.

Das Buch "Tagebuch der Reise nach Italien über die Schweiz und Deutschland von 1580 bis 1581", übersetzt von Hans Stilett, ist im Verlag Die andere Bibliothek erschienen (momentan vergriffen).

Moderation: Antonio Pellegrino

Podcast verfügbar


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