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Elif Shafak "Hört einander zu!"

Die türkische Bestsellerautorin Elif Shafak macht sich Sorgen in ihrem Essay. Laut ihrer Diagnose stehen wir an einer Schwelle - wer oder was werden wir sein, wenn wir die Pandemie halbwegs überstanden haben? Was wird aus unseren so selbstverständlich genommenen Wertekanon von Freiheit, Demokratie, Bildung? Und können wir aus Frust und Wut auch irgendetwas Positives ziehen? "Hört einander zu!" heißt Elif Shafaks Plädoyer. Es liest Katja Bürkle.

Von: Kirsten Böttcher

Stand: 24.03.2021 14:15 Uhr | Archiv

Elif Shafak, in Straßburg geboren, gehört zu den bedeutendsten Schriftstellerinnen der Gegenwart. Ihre Werke wurden in über fünfzig Sprachen übersetzt. Zu ihren bekanntesten Romanen zählen "Die vierzig Geheimnisse der Liebe" (2013) und "Ehre" (2014). Mit "Unerhörte Stimmen" (2019) stand sie auf der Shortlist des Man Booker Prize. Gerade erschien ihr Essay "Hört einander zu" (Kein & Aber) | Bild: Olivier Hess

"Wer, wenn ich schrie, hörte mich denn aus der Engel Ordnungen?"

(Rainer Maria Rilke, Duineser Elegien)

Einhundert Jahre nach Rilkes Poesie, im 21. Jahrhundert, in einer tief gespaltenen, nach Würde und Gleichstellung lechzenden Welt, würde die türkische Autorin Elif Shafak Rilkes Klage so umformulieren, zur allgegenwärtige Frage:

"Wer, wenn ich schrie, hörte mich denn aus der Menschen Ordnungen?"

(Elif Shafak, Hört einander zu)

Elif Shafak, momentan in London lehrend und beheimatet, legt regelmäßig Bestseller vor, die in über fünfzig Sprachen übertragen werden; 2019 wurde ihr Roman „Unerhörte Stimmen“ auf die Shortlist des renommierten Man Booker Prize gesetzt. Doch ist die erfolgreiche Romanautorin auch eine sozial engagierte Politikwissenschaftlerin. So ist es nur auf den ersten Blick überraschend, dass Shafak nun ein schmales Sachbuch geschrieben hat, das sich mit der Frage beschäftigt, wie wir in einer Welt der Spaltung gesund bleiben können („How to stay sane in an Age of Division"). Ihr Büchlein ist jedoch alles andere als ein "How-to"-Ratgeber, und der deutsche Titel fällt ganz anders aus: "Hört einander zu!“

Zwischen Narzissmus und Verunsicherung

Schauspielerin Katja Bürkle liest Elif Shafak.

Mehr als die Hälfte der Bewohnerinnen und Bewohner demokratischer Länder gibt an, ihre Stimme werde nie oder selten gehört, so schreibt die 1971 in Straßburg geborene Schriftstellerin und Aktivistin für Gleichstellung und freiheitliche Werte. Wenn diese Stimmung schon in relativ demokratischen Staaten vorherrscht, um wie viel höher muss der Prozentsatz erst in autoritären Regimen liegen und was folgt daraus? Wer das Gefühl habe, so Shafak, dass seine Stimme, seine Geschichte nichts zähle, wird weniger bereit sein, anderen zuzuhören, schreibt Shafak in ihrem Essay, der eine elegant changierende, eingängige Mischung aus Lagebericht, Krisenanalyse, biografischen Rückblicken und Appell ist. Hören wir anderen nicht mehr zu, taumeln wir nur noch in unserer eigenen Meinungsblase, lernen nichts mehr dazu, schauen in unser eigenes Spiegelbild, scrollen nur noch durch News, die wir lesen wollen - eine erstickende, narzisstische Welt.

"In unserer immens komplexen und fordernden Welt kompensiert der Gruppennarzissmus immer häufiger persönliche Frustration, Schwächen und Misserfolge. Vor allem aber stellt er das Gegengewicht zu zwei verstörenden Gefühlszuständen dar: Desillusionierung und Verunsicherung."

(Elif Shafak)

Identität ist kein endgültiger Zustand

Die Illusion, Menschen in heutigen Zeiten einem Herkunftsland zuordnen zu wollen, zeuge wiederum von dem hohen Grad von gesellschaftlicher Verunsicherung, die zur Folge habe, dass komplexere Geschichten verkürzt, Wahrheiten verschwiegen würden, erklärt die in London lehrende Autorin, auch auf ganz persönliche Weise.

"Die Frage Woher kommst du? war für mich (…) die einzige Frage, vor der ich mich fürchtete."

(Elif Shafak)

Für Shafak ist diese Pandemie auch eine Sinnkrise. Es gelte, sich einfachsten Fragen wieder neu zu stellen, um sich an dieser Schwelle, an der wir alle stehen, für einen Weg in die Zukunft zu entscheiden - wieder zurück zu Nationalismus oder hin zu mehr internationaler Kooperation. Die Generation Z werde ganz besonders von der Coronakrise betroffen sein, obwohl sie die bisher vielseitigste und am besten ausgebildete Generation sein wird. „Doch welche Großmutter kann heute zuversichtlich behaupten, diei nächste Generation werde es aufgrund ihrer Bildung leichter haben?" Elif Shafak findet es "völlig in Ordnung", dass wir uns in diesen angespannten Zeiten niedergeschlagen fühlen, und doch gelte es jetzt, diese "dunkle Seite" unserer Gefühle anzuerkennen und in etwas Heilsames umzuwandeln.

Elif Shafak, 1971 in Straßburg geboren, gehört zu den bedeutendsten Schriftstellerinnen der Gegenwart. Ihre Werke wurden in über fünfzig Sprachen übersetzt. Zu ihren bekanntesten Romanen zählen Die vierzig Geheimnisse der Liebe (2013) und Ehre (2014). Mit Unerhörte Stimmen (2019) stand sie auf der Shortlist des Man Booker Prize. Ihre Artikel und Auftritte machten sie zum viel beachteten Sprachrohr für Gleichberechtigung und freiheitliche Werte zunächst in der Türkei, später in ganz Europa. Elif Shafak lebt mit ihrem Mann und zwei Kindern in London.

Elif Shafak – "Hört einander zu!"


Originaltitel: How to Stay Sane in a World of Division, aus dem Englischen übertragen von Michaela Grabinger, erschienen bei Kein & Aber.

Lesung am Dienstag, 30. März in den radioTexten mit Katja Bürkle

Moderation und Redaktion: Antonio Pellegrino

Unsere Lesungen können Sie nachhören: auf dieser Seite im Stream, als Download im Podcast-Center des Bayerischen Rundfunks und überall, wo es Podcasts gibt.


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