Bayern 2 - Nachtmix


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Kevin Coyne/Siren Das Ausgeliefertsein des Einzelnen

Das britische Label Cherry Red hat ein Unter-Label gegründet, das sich der Wiederveröffentlichung der Musik des Singer/Songwriters Kevin Coyne widmen soll. Nach frühen Home Recordings sind nun die ersten beiden Alben der Coyne-Formation Siren erschienen, mit denen seine wechselvolle Karriere begann.

Von: Karl Bruckmaier

Stand: 24.03.2013 | Archiv

Kevin Coyne | Bild: picture-alliance/dpa

Kevin Coyne wurde im Januar 1944 in Derby, Großbritannien geboren. Dort besuchte er - wie so viele "schwierige" Kinder der Nachkriegszeit - eine so genannte Art School, also eine musische Fachhochschule, wo er in einen Design-Studiengang eingeschrieben war, aber wohl vornehmlich allen möglichen Unsinn trieb wie Blues-Veranstaltungen für Anfänger zu besuchen. Dort traf er den drei Jahre jüngeren Nick Cudworth, der ein wenig Schlagzeug und Klavier spielen konnte. Nick erinnert sich:

"Wie immer war ein unorganisierter Haufen Mundharmonika-Spieler und Gitarristen vor Ort; es ging auf bescheidenem Niveau schwer durcheinander. Plötzlich jedoch hatte ich ein Saulus/Paulus-Erlebnis: Da war so ein Sound, eine Stimme, dazu Mundharmonika, die alle verstummten ließ. Das war Kevin und zum ersten Mal in meinem Leben dachte ich: Das ist es. Alles, was ich bisher ausprobiert hatte, erschien plötzlich witzlos und Kinderkram. Das hier war etwas ganz anderes, etwas voller Kraft und davon wollte ich etwas abhaben."

Nick Cudworth

Nick Cudworth wurde zu Kevin Coynes Sidekick in jenen Studientagen und fuhr zum Beispiel mit ihm zur ersten Bob Dylan-Tournee durch Großbritannien, wieder erstaunt über sein älteres Vorbild:

"Er vermittelte mir den Eindruck, dass wir das auch draufhätten."

Nick Cudworth

Kevin findet sein lebenslanges Thema: das Ausgeliefertsein

Nach 1966 verloren sich die beiden erst einmal aus den Augen; Nick ging nach London und studierte dort Kunst. Kevin arbeitete bereits im Sozialdienst für das Wittingham Mental Hospital im Nordwesten Englands, wo er im Umgang mit Patienten, Ärzten und der wuchernden Bürokratie sein lebenslanges Thema fand: das Ausgeliefertsein des unglücklichen Einzelnen an eine lieblose Umwelt.

1967 nahm Nick Cudworth wieder Kontakt auf zu seinem Jugendidol und besuchte ihn an seinem Arbeitsplatz, wo auch ein Klavier für die Patienten stand. Sofort wurde wieder an Songs und Stücken gearbeitet, getrunken, geraucht, Pläne geschmiedet – und Nick erzählte Kevin von den vielen Jam-Sessions in Londoner Pubs und einem richtig berühmten Musiker, den er dort getroffen hat: Dave Clague. So richtig berühmt war Dave zwar nicht, aber er hat zumindest einige Monate bei der Bonzo Dog Doo-Dah Band gespielt, war auf deren Platten zu hören und im Fernsehen zu sehen, wenn die Bonzos bei "Do Not Adjust Your Set", einem Vorläufer der Monty Python-Sendungen, die Hausband gaben.

Nach seinem Rauswurf bewarb sich Dave Clague bei Atomic Rooster und Roger Chapmans Family um den Job als Bassist, aber in keinem der Fälle wurde etwas daraus, also ließ er sich von Nick überreden, sich mal diesen Kevin Coyne anzuhören, wenn der nach London kam, um seine Schwester und deren Mann in Camberwell zu besuchen. Clague war schnell eifersüchtig auf Kevins Talent, Songs aus dem Ärmel zu schütteln und auf seine hohe Originalität, die ihm offensichtlich abging, also spielte er seinen Trumpf: Connections ins Musik-Business.

Schließlich fand man Gehör bei John Peel

Nick Cudworth, Dave Clague und Kevin Coyne konnten manchmal nachts leere Studios nutzen; Radio-DJs wurden Bänder auf Toiletten zugesteckt; Plattenfirmen wurden bedrängt und schließlich fand man Gehör bei John Peel, DJ bei der BBC und Mitbetreiber einer kleinen Plattenfirma namens Dandelion. Der mochte die einsamen Texte Kevins und den ungekünstelten Blues, der alle Songs zu unterlegen schien und nicht so berechnet und berechenbar klang wie die Bemühungen vieler Zeitgenossen. Peel mochte sogar die eher an die 50er Jahre angelehnten Versuche der Band, einen Hit zu landen wie "Ze Ze Ze Ze" oder "Hot Potato".

Die ersten Singles auf Dandelion erschienen noch als Clague-Coyne: Das zeigt ganz deutlich die interne Machtverteilung in der Band. Da war Dave Clague, der sich so viel auf seine Professionalität einbildete; da war Kevin Coyne, der sich trotz aller Selbstzweifel für einen potentiellen Rockstar hielt – die beiden gaben den Ton an. Und da war Nick Cudworth, der jüngere Adlat, der zu den beiden Groß-Egos aufblickte und im Namensgebungsprozess einfach übergangen wurde. Im Umfeld des Labels fand man aber schnell diesen Namen Clague-Coyne ohnehin irgendwie unsexy und verpasste den Dreien den Namen Siren. Nick Cudworth:

"Siren war nie eine richtige Band. Ich weiß noch, wie ich durch die Seminare an der Kunsthochschule tigerte und jeden fragte, ob er Blues-Gitarre spielen könne(…); für die Sessions hatten wir dann noch einen Jazz-Schlagzeuger, den Kevin ständig verarschte, weil er mal einen Novelty-Hit mitkomponiert hatte. Aber Kevin stänkerte sowieso ständig an allem herum."

Nick Cudworth

Der Drogenkonsum nahm zu

Ob Clague-Coyne oder Siren: die Singles wie auch die ersten beiden LPs erwiesen sich anno 1969 und 1970 quasi als unverkäuflich. Die BBC spielte die Songs nicht, weil John Peel damit zu tun hatte, und für Anzeigen in der Presse oder gar Auslandsreisen zu Promotionzwecken war kein Geld da. Kevin war inzwischen mit seiner ersten Frau Leslie und den beiden kleine Söhnen Robert und Eugene nach London gezogen und arbeitete nach wie vor im Sozialdienst.

Nick Cudworth quartierte sich 1970 nach einem Auslandssemester in den USA ebenfalls bei Familie Coyne ein; der Konsum von jeder Sorte Alkohol und inspirierender Dinge zum Rauchen nahm zu, die Qualität der Aufnahmen nach Aussage von Nick Cudworth ständig ab:

"Für meinen heutigen Geschmack ist auf der zweiten LP ‚Strange Locomotion’ zuviel besoffenes Boogie-Zeugs drauf und zuviel schlecht gelauntes Gereime."

Nick Cudworth

Dazu wurde Kevin nicht müde, Interviews zu geben, in denen er ständig auf das Business, die Gesellschaft, die anderen, natürlich korrupten Bands und den lieben Gott gleich dazu schimpfte.

Kevin Coyne Nobody Dies In Dreamland Cover | Bild: Cherry Red Records

Heute kann man die beiden Siren-LPs natürlich ganz anders hören – speziell weil das von dem Indie Cherry Red eingerichtete Label Turpentine jetzt die beiden Alben plus viel Bonus-Material wiederveröffentlicht hat. Kevin Coynes Talent überragt das magere Handwerk seiner Mitmusiker turmhoch; seine Fähigkeit, aus dem Moment heraus trüb-dunkelblaue Texte zu improvisieren, die einen leicht aus der Perspektive geschobenen Blick auf die menschliche Natur ermöglichen, erklärt die professionelle Begeisterung eines John Peel und den etwas später von Jac Holzman geäußerten Wunsch, Kevin möge den verstorbenen Jim Morrison bei seiner Electra-Band The Doors ersetzen. Kevin versteckte sich hinter dem Kommentar, so enge Hosen aus Leder seien wohl nichts für ihn, aber in Wahrheit wusste er, dass seine knüppelharten Texte über die britischen Klein- und Großbürger im sonnigen Kalifornien keine Chance haben würden. Also blieb es bei einem Dollar-Scheck aus Amerika, mit dem man neue Instrumente kaufte und der Hoffnung, es doch noch in England zu schaffen, indem man schnell hintereinander die Labels wechselte…

Anfang der 70er waren die Pop-Träume ausgeträumt

1971 starb Nick Cudworths Vater und Nick verließ London, um sich um das Erbe und die Familie zu kümmern. Dave Clague nahm den Job bei einer Tanzkapelle auf Mallorca an. Kevin trat gelegentlich solo auf und trank zuviel.

Das Dandelion-Label unternahm einen letzten Versuch mit seinem schwierigen Sozialarbeiter. Es veröffentlichte die erste Kevin Coyne-Solo-LP mit dem Titel "Case History", die hauptsächlich aus Überresten von Siren-Sessions bestand, sich aber inhaltlich ganz auf Kevins Stärken konzentrierte: die Stimme, die genaue Beobachtung, die sarkastische Ausdrucksform – doch 1972 schienen mit dem Ende des geduldigen Labels auch Kevins Popstar-Träume ausgeträumt.

Kevin Coyne bekam aber noch eine zweite, und später noch dritte und vierte Chancen, bevor er 2004 mit 60 Jahren deutlich zu früh gestorben ist. Diese zweite Chance bestand aus dem Interesse des von Richard Branson finanzierten Labels Virgin, das neben einem gewissen Michael Oldfield 1973 auch den sturen Kevin Coyne unter Vertrag nahm – aber dies ist eine andere Geschichte.


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