Bayern 2

     

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Nagelschuh und Stethoskop Pius Roth, Bauerndoktor im Isartal

1910 schrieb der Lenggrieser Arzt seine "Erinnerungen eines oberbayerischen Bauerndoktors" - Erinnerungen an eine Zeit, deren Lebensverhältnisse in fast allen Bereichen dem mittelalterlichen Leben ähnlicher waren als der Moderne.

Von: Andreas Pehl

Stand: 22.03.2022 | Archiv

Ein weiß-blauer Himmel, Schnee auf den Berggipfeln: Bessere Voraussetzungen kann es gar nicht geben, um in Lenggries ein Wochenende zu genießen. Und wer dabei kein Glück hat, für den gibt's den Hubschrauber, der fast jeden Tag hier unterwegs ist. Aber wie war das eigentlich früher, ohne Luftrettung, ohne befestigte Straßen und ohne Autos? Auch vor 150 Jahren hat es Unfälle gegeben - vielleicht mehr als heute: Bei der Holzarbeit, im Sägewerk, beim Arbeiten auf dem Floß, auf dem Hof und auf der Straße mit Pferdefuhrwerken. Und natürlich Schussverletzungen bei der Jagd und bei der Wilderei. Viel zu tun für einen Landarzt wie Max Pius Roth, der 1910 seine Erinnerungen an seine Zeit in Lenggries und Berchtesgaden in einem Bericht aufgezeichnet hat.

"Mehr als einmal bedingte es die Masse des Schnees und schlechte Wegverhältnisse, dass ich zu einem einzigen Besuche in Hinterriß - gewöhnlich handelte es sich um einen Unglücksfall eines armen Arbeiters oder sonst um eine schwere Krankheit - nahezu 24 Stunden brauchte, Tag und Nacht auf dem Schlitten saß, während der Gaul seine sämtlichen Eisen abstreifte. Einmal musste nachts von Vorderriß ab der Knecht des Forstmeisters mit Laterne, Axt, Säge und Schaufel vorangehen, um ... Bäume, die der Wind gebrochen hatte, abzusägen, und die Schneewechten aus dem Wege zu räumen.... Ich kam morgens drei Uhr an ein Sterbebett, nur um erklären zu müssen, dass da alle menschliche Kunst zu Ende sei."

Max Pius Roth, Erinnerungen eines oberbayerischen Bauerndoktors

Mit 25 Jahren war der gebürtige Ansbacher Roth 1875 nach Lenggries gekommen, nachdem er zwei Jahre als Schiffsarzt zwischen Europa und Amerika für den Norddeutschen Lloyd gearbeitet hatte. In seinen Erinnerungen berichtet er über seine Arbeit, aber auch über den Gesundheitszustand, die Ernährungsgewohnheiten, über Trachten, Brauchtum und Wesensart seiner Patienten. Als studierter Arzt hatte man es vor rund 150 Jahren nicht leicht mit den Oberlandlern und ihrem medizinischen Verständnis.

"Der Friedl in Jachenau, ein alter Bauer, den ich behandelte, ließ eines Tages 'Botschaft' sagen, ich solle kommen 'un's Rasierzeug a glei mitnehma'. Er wunderte sich, als ich ihm erklärte, dass ich ihn nicht rasiere, denn erstens hätte ich's nicht gelernt und zweitens, wenn ich's könnte, würde ich als Doktor ihn nicht rasieren. 'Ja so,' sagte der Friedl, 'i hab g'moant, dös miasst's alle lerna und die bessern Bader wer'n nacha Dokta'. … Der Unfug des Aderlasses spielte noch in meine Zeit herein... Ich musste, wenn ich nicht als unfähiger Arzt erscheinen wollte, wohl oder übel einige Male Ader lassen. Den Unfug, dass Hochschwangere sich zur Ader ließen, hatte ich aber gar bald ausgetrieben."

Max Pius Roth, Erinnerungen eines oberbayerischen Bauerndoktors

Auch Hausmittel wie Urmantel, Mankeischmalz, Fuchsleber oder Regenwurmöl waren noch sehr beliebt - klassische Medizin der frühen Neuzeit, die sich in den Apotheken bis Anfang des 20. Jahrhunderts gehalten hat. Regenwurmöl war für ziemlich alles gut - es half gegen Halsschmerzen, Ohrenschmerzen, Zahnschmerzen, Magenschmerzen und viele andere Schmerzen. Vielleicht war man aber nach der Einnahme einfach von den Schmerzen abgelenkt. Aber es gab auch Situationen, da half kein Hausmittel mehr…

"Eines Tages saßen wir in Gesellschaft auf der Post, als die Meldung eintraf, in Fall hätten 2 Männer... sich schwere Stichverletzungen beigebracht... Im Wirtshaus lagen so im Massenquartier der Flößer, ein Leichnam und neben ihm ein Schwerverletzter... Als ich nun an die genauere Untersuchung ging - es assistierte mir ein zufällig anwesender Stallmeister - fand ich eine penetrierte Bauchwunde..., aus welcher der größere Teil der dünneren Därme gequollen war. Die Gedärme waren an wenigstens zwölf Stellen zerschnitten und mit dem Darminhalte waren auch zwei lange Spulwürmer ausgetreten, welche träge auf dem Darmkonvolut sich hin und her wälzten. Ein für den Augenblick schauerlicher Anblick. Ich reinigte und desinfizierte so gut es ging,... vernähte sorgfältig alle Därme, wusch und reinigte wieder, chloroformierte sodann und brachte die Gedärme in die Bauchhöhle zurück, welche ich mit festen Nähten unter Einlage eines Drainagerohres schloss... Für den Augenblick befand sich der Verletzte nach der 2stündigen Operation ganz leidlich."

Max Pius Roth, Erinnerungen eines oberbayerischen Bauerndoktors

Wildwest im Oberland! Trotz all seiner ärztlichen Kunst und seines Einsatzes gelang es Max Pius Roth aber nicht, diesen Mann zu retten. Er erlag zwei Tage später seinen Verletzungen. Doch oft konnte der Arzt auch helfen.

"Eines Tages wurde ich zum Klasenbauer in Schlegldorf gerufen. Der Bauer war unter die Räder geraten und diese hatten ihm einen großen Triangel... vom Kopfe geschält.... Ich reinigte alles sorgfältig vom Staub, Schmutz, Kopfhaaren und sonst eingedrungenen Verunreinigungen und suchte den Skalp wieder auf den richtigen Platz zu etablieren. Ich nähe und nähe, aber ein gutes Stück fehlt. 'Ja, wie ist denn das? Da geht's mir nit recht aufeinand.' 'Woaßt Doktor, der Zipfel is mer über's Aug neig'hängt und hat bluat, so dass i nix mehr g'seng hab. Bäurin geh her, hab i g'sagt, nimm d' Scher und schneid's weg.' Aus diesem Geschichtchen geht hervor, wie hart die Isarwinkler... gegen sich selbst waren, wie sie die heftigsten Schmerzen mit größtem Gleichmut ertragen, gerade so wie der Friese, der Holsteiner, der Norweger."

Max Pius Roth, Erinnerungen eines oberbayerischen Bauerndoktors

Dr. Max Pius Roth

Arztberichte wie der von Max Pius Roth sind in Bayern keine Seltenheit. Denn wenige Jahre vor Roths Amtsantritt in Lenggries forderte König Maximilian II. Physikatsberichte an, also Berichte der Physikats- oder Amtsärzte aus allen Landkreisen des Reiches an. Insgesamt 284 Einzelberichte, ein volkskundlicher Schatz für das Leben in Bayern um 1860 und eine in ganz Europa einmalige historische Quelle. Die Ärzte vor Ort sollten berichten über Lage, Klima, Aussaat- und Erntezeiten, Bodenbeschaffenheit und Heilpflanzen, aber auch über die physische und intellektuelle Konstitution der Menschen, über Wohnverhältnisse und Hygiene, Kleidung, Ernährung, Fruchtbarkeit und Eheleben. Besonders wertvoll ist für Historiker heute der naturkundliche Teil, unterhaltsamer dagegen der ethnografische.

"In intelligenter Beziehung sind die Schwaben gleich den Yankees und den Schotten ein durchtriebener und speculativer Menschenschlag, dessen Dichten und Trachten auf schnelle Bereicherung gerichtet ist. Der Landmann ist unermüdlich arbeitsam, häuslich, ... geizig... Im Umgang höflich und wenn es sein Vorteil erfordert sogar kriecherisch."

Dr. Johann Heinrich Beck, Bericht über Roggenburg

Ganz ähnlich steht es in Berichten anderer Ärzte: Während die Schwaben arbeitsam sind, sparsam und reinlich, sind die Franken redselig, nicht besonders sauber, dafür allen anderen Bayern intellektuell überlegen. Die Oberbayern hingegen sind rückständig, langsam, raufen und saufen und stehen Neuerungen ablehnend gegenüber. Nicht nur bei der Charakterisierung der Lenggrieser, der Jachenauer oder später der Berchtesgadener nutzt auch Max Pius Roth solche Stereotype.

"Einen schwindsüchtigen Bauern frug ich auf dem Totenbette, welches Quantum Bier das größte gewesen sei, welches er auf einen Satz getrunken. 32 Maß lautete die heisere Antwort."

Max Pius Roth, Erinnerungen eines oberbayerischen Bauerndoktors

Dass manche solcher Stereotype aber durchaus stimmen, das lässt sich sogar belegen, etwa, dass die Oberbayern gern tiefer ins Glas schauen. So ist nachgewiesenermaßen der Bierkonsum der Schwaben bis heute deutlich geringer als der der Oberbayern.


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