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Epilepsie Kurzschluss im Gehirn

Epileptische Anfälle dauern meist nur Sekunden bis ein bis zwei Minuten und zeigen sich zum Beispiel durch Zuckungen.

Von: Katrin Bohlmann

Stand: 14.04.2023

Symbolbild: schematische Darstellung eines Kopfes, bei dem aus dem Gehirn Blitze zucken. | Bild: Colourbox

Manchmal kann sich der ganze Körper verkrampfen. Der Betroffene verliert dann das Bewusstsein. Medikamente helfen, die Epilepsie in den Griff zu bekommen, viele Menschen mit Epilepsie leben anfallsfrei.

Experte:

Prof. Dr. med. Jan Rémi, Neurologe, Leiter des Interdisziplinären Epilepsiezentrums am Klinikum der Universität München-Großhadern

Epilepsien gehören zu den häufigsten neurologischen Erkrankungen. In Deutschland sind rund 600.000 Menschen davon betroffen. Mediziner sprechen dabei erst dann von einer Erkrankung, wenn Anfälle mehrfach auftreten können. In der Regel beginnt ein epileptischer Anfall plötzlich und ohne erkennbaren Anlass.

Dem Text liegt ein Gespräch mit Prof. Dr. med. Jan Rémi zugrunde, Neurologe, Leiter des Interdisziplinären Epilepsiezentrums am Klinikum der Universität München-Großhadern.

Epilepsie ist eine Gehirnerkrankung, die sich dadurch auszeichnet, dass die Kern- Beschwerde epileptische Anfälle sind. Im Gehirn entstehen diese meist ohne äußeren Auslöser. Epileptische Anfälle sind die Folge unvorhersehbar auftretender, synchroner elektrischer Entladungen von Nervenzellen im Gehirn, die zu ungewollten Symptomen führen. Das Gehirn trägt in sich die Veranlagung, Anfälle zu erzeugen. Die größte Belastung für Epilepsie-Erkrankte ist, dass die Anfälle plötzlich kommen.

"Die Belastung durch die Epilepsie besteht eher dadurch, dass die Anfälle ja genau dann auftreten, wenn man es nicht braucht. Oder zumindest, dass man die Sorge hat, dass die Anfälle genau dann passieren, wenn man sie nicht braucht. Das ist die große Belastung für die Patienten."

Prof. Dr. med. Jan Rémi, Leiter des Interdisziplinären Epilepsiezentrums am Klinikum der Universität München-Großhadern.

Die Epilepsie ist definiert als eine krankhafte Anfallsaktivität des Gehirns. Dabei kommunizieren die Nervenzellen nicht mehr richtig miteinander. Die Hirnfunktion ist sehr kompliziert. Jeder Mensch hat hundert Milliarden Nervenzellen und jede Nervenzelle hat Kontakt mit 10.000 anderen Nervenzellen. Sie sind ständig im Austausch. Wenn ihre Funktion, Signale zu erzeugen, weiterzuleiten oder aufzunehmen, gestört ist, kann es zu epileptischen Anfällen kommen. Oder: Wenn die Verbindungen der hundert Milliarden Nervenzellen mit den 10.000 Kontakten von jeder Nervenzelle eine falsche Verdrahtung haben, dann kommt das Signal an der falschen Stelle an. Das alleine löst aber noch keine Epilepsie aus, aber typischerweise ist bei Menschen mit Epilepsie eben nicht nur eine Nervenzelle falsch verdrahtet, sondern zehn oder hundert Millionen Nervenzellen. Dann wird ein Ablauf angestoßen, bei dem plötzlich viel zu viel Aktivität vorhanden ist und einen epileptischen Anfall verursacht. Was nach außen dann sichtbar ist, das Zucken oder Verkrampfen, ist dann nur die Weiterleitung in das, was unsere Körperfunktionen ausmacht.

"Es ist so, als wenn sich plötzlich ganz viele Menschen anschreien statt normal miteinander zu reden. Da merkt man auch sofort, dass da etwas nicht stimmt."

Prof. Dr. med. Jan Rémi,Leiter des Interdisziplinären Epilepsiezentrums am Klinikum der Universität München-Großhadern.

Epileptische Anfälle sind sehr vielgestaltig. Es ist nicht immer so, dass der ganze Körper zuckt. Oft nehmen die Betroffenen den Anfall nicht wahr. Viele Patienten erleben einen Bewusstseinsverlust. Aber: Es gibt manchmal ein Zeitfenster zu Beginn eines Anfalls, den Mediziner "Aura" nennen. Dann nehmen Patienten "Vorzeichen" wahr, die man von außen nicht sehen kann.
Das kann zum Beispiel sein:

  • ein Kribbeln des Armes oder Beines, das langsam aufsteigt, den restlichen Körper betrifft
  • eine Wahrnehmung, die aus der Magengegend aufsteigt
  • ein Geruch

Aber diese Auren dauern nur Sekunden. Sie sind also kein Vorgefühl, das man viele Minuten oder Stunden vorher hat. Viele Menschen mit Epilepsie beschreiben, wenn man sie nach dem Anfall befragt, dass sie sich vorher anders gefühlt haben. Mediziner gehen dabei davon aus, dass dieses Vorgefühl auch teilweise eine Beschreibung von hinterher ist. Wenn man hinterher fragt, war vorher immer ein bisschen etwas anders. Aber diese Vorgefühle sind nicht trennscharf genug. Sie helfen also meist nicht, epileptische Anfälle rechtzeitig zu erkennen.

Je nachdem, wo im Gehirn diese krankhafte Nervenzellaktivität zu viel ist, bestimmt, welche Anfallsbeschwerden auftreten. Denn das menschliche Gehirn ist sehr strikt gegliedert in seine Funktionen. So ist sehr genau bekannt, wo zum Beispiel die Nervenzellen sind, mit denen wir die Hand bewegen oder mit denen wir sehen bzw. die Sehwahrnehmung haben. Wenn jetzt in ganz bestimmten Gegenden des Gehirns Anfangsaktivitäten sind, dann ist genau diese Funktion, die da steckt, auch betroffen. Ein anderes Beispiel: Wenn im Sprachzentrum eine Anfallsaktivität ist, dann hat der Patient eine Sprachstörung.

Die Anfallsbeschwerden können zwei grundsätzliche Richtungen einnehmen: Einmal kann es mehr an Funktion sein. Das ist zum Beispiel ein Zucken des Armes. Andererseits gibt es Hirnfunktionen, die ziemlich kompliziert sind, wie Sprache. Wenn dort eine Anfallsaktivität ist, dann gibt es weniger an Funktion. Ein anderes Beispiel für weniger an Funktion ist die ganz klassische "Absence". Das sind kleine Anfälle, die sich durch ein leeres Starren auszeichnen. Dabei sind die Betroffenen auch nicht mehr kontaktfähig. Spricht man sie an, werden sie nicht antworten.

"Wir haben also durch einen epileptischen Anfall nicht mehr Aufmerksamkeit, sondern weil das eine komplizierte Funktion ist, haben wir weniger an Aufmerksamkeit."

Prof. Dr. med. Jan Rémi,Leiter des Interdisziplinären Epilepsiezentrums am Klinikum der Universität München-Großhadern.

Die Ursachen der Epilepsie sind sehr vielschichtig. Dies können sein:

  • Schädigungen des Gehirns: Schlaganfall, Kopfverletzungen, Hirntumor
  • Genetische Veranlagung: in der Feinstruktur des Gehirns oder in der großen Struktur. Fehlbildungen im Gehirn sind die Folge. Epilepsie tritt dann häufig schon im Kindes- oder Jugendalter auf.

Eine typische Ursache für Epilepsie ist bei älteren Menschen eine Sammlung von Hirnschädigungen im Laufe der Jahre. Das sind kleine Schlaganfälle, die für sich genommen noch keine wesentliche Einschränkung machen, die aber in dem Teil des Gehirns eine Kommunikationsstörung machen und sehr häufig epileptische Anfälle verursachen. Eine weitere mögliche Ursache sind in unserer alternden Gesellschaft die Demenzen. Auch da geschieht im weiteren Verlauf eine fehlerhafte Kommunikation der Nervenzellen. Zahlen beweisen: Bei Menschen über 85 Jahre haben zwölfeinhalb Prozent der Bevölkerung Epilepsie.

Andere Ursachen von Epilepsie können Fehlbildungen sein, das heißt, wenn Nervenzellen sich falsch im Gehirn verteilt haben oder wenn die Gesamtstruktur von Nervenzellen gestört ist. Diese Form von Epilepsie kann vererbt sein. Das heißt bei Menschen mit genetischer Epilepsie besteht eine leicht erhöhte Gefahr, dass auch die Kinder Epilepsie bekommen. Wichtig dabei: Selbst wenn eine gewisse epileptische Veranlagung da ist, kann sich das Gehirn aber doch noch richtig verdrahten und die Epilepsie muss nicht auftreten.

Kinder haben einen großen Anteil an Epilepsie. Dabei gibt es Epilepsien, die sich herauswachsen. Das passiert im späten Jugendalter oder frühen Erwachsenenalter, da das Gehirn weiter reift. Das heißt, diese Menschen tragen eine gewisse Veranlagung für Epilepsie in sich und genau in einem gewissen Zeitfenster der Hirnreifung, zum Beispiel im sechsten Lebensjahr, ist dann eine Entwicklungsverdrahtung des Gehirns erreicht, wo Anfälle auftreten können. Wenn das Gehirn dann weiterreift, dann wird irgendwann die endgültige Verdrahtung erreicht, so dass diese jungen Patienten schließlich keine Anfälle mehr haben.

Epilepsie ist nicht gleich Epilepsie. Mediziner kennen sehr viele verschiedene Epilepsie-Erkrankungen. Aber: Je nachdem, woher der Anfall kommt, ob es sich um die Schädigung der gesamten Hirnstruktur handelt oder nur ein Teilbereich betroffen ist, macht ganz große Unterschiede in der Epilepsie.

Bei der sogenannten generalisierten Epilepsie ist das gesamte Gehirn ganz schnell im Anfall mitbeteiligt. Dagegen beginnen bei einer fokalen Epilepsie die Anfälle immer in einer bestimmten Hirnregion. Diese Unterscheidung ist wichtig, weil sie sich in den Therapiemöglichkeiten unterscheiden.

In der Epilepsie gibt es einen Leitspruch: "Nicht alles was zuckt, ist Epilepsie und nicht alles was Epilepsie ist, zuckt." Das heißt, wenn ein Mensch am ganzen Körper zuckt, gibt es viele andere Möglichkeiten als Epilepsie. Deshalb ist die Anamnese, die Krankengeschichte, wichtig bei der Diagnose. So muss geklärt werden, ob es vor Jahren einen Schlaganfall gab. Sehr hilfreich ist, wenn Außenstehende berichten. Auch Handyvideos helfen, Situationen sorgfältig medizinisch zu analysieren, da die Experten aus der Form des Anfalls viele Aussagen treffen können. Zur umfangreichen Diagnose gehört auch eine körperliche Untersuchung des Patienten sowie eine Bildgebung des Gehirns: manchmal ein CT, häufig ein MRT. Immer dazu gehört ein EEG, also eine Darstellung der Hirnstromkurve.

Der letzte Schritt der Diagnostik ist ein sogenanntes EEG-Video-Monitoring. Patienten kommen dafür in Spezialeinrichtungen und werden beobachtet. Dabei werden die Hirnstromkurve gemessen und ein Video der Patienten aufgezeichnet. Wenn die Patienten dann unter Beobachtung einen Anfall haben, können die Mediziner direkt die Aktivität im Gehirn über die Hirnstromkurve und die Anfallsformen vergleichen.

Die gute Nachricht: Circa zwei Drittel der Menschen mit Epilepsie werden mit dem ersten und zweiten Medikament anfallsfrei. Täglich eingenommene Antiepileptika sorgen dafür, dass die Nervenzellen gehemmt und dadurch beruhigt werden. Mittlerweile gibt es rund 30 verschiedene Medikamente gegen Epilepsie. Moderne Wirkstoffe haben oft weniger Nebenwirkungen. Ziel der Behandlung ist, anfallsfrei zu sein bei möglichst geringen Nebenwirkungen. Typische Nebenwirkungen sind: leichter Schwindel, Müdigkeit, Gefühl des Gedämpft-Seins.

Wichtig: Die Therapie ist eine Unterdrückung der Anfälle und keine Heilung der Epilepsie. Das heißt: Meist muss das Medikament ein Leben lang eingenommen werden, außer bei Kindern.

Neben vielen Möglichkeiten der Medikation können auch Stimulationstechniken helfen. So kann mit Strom das Gehirn speziell stimuliert werden. Wie bei einer Vagusnervstimulation (VNS): Hier wird eine Art Schrittmacher unter die Haut im Brustbereich implantiert. Das Gerät erzeugt elektrische Impulse, die vom Vagusnerv am Hals ins Gehirn geleitet werden. Das soll die Überaktivität hemmen, die zu epileptischen Anfällen führt.

Eine Operation, die Epilepsie-Chirurgie, kommt nur bei fokalen Epilepsien in Frage, wenn also klar ist, von welcher Seite im Gehirn die Anfälle genau ausgehen. Wenn der Punkt im Gehirn gut erkennbar ist, wo die Anfälle herkommen, kann der Chirurg den gut herausschneiden. Im besten Fall kann eine Epilepsie-OP zu einer langjährigen Anfallsfreiheit führen.

Medikamente heilen Patienten mit Epilepsie nicht, aber sie führen häufig zur Anfallsfreiheit. Die meisten Patienten profitieren von Medikamenten zumindest mit einer Verringerung der Anfangszahl. Rund ein Drittel der Patienten wird mittel- und langfristig nicht anfallsfrei mit Medikamenten. Dann folgen Kombinationstherapien. Meist sind dies Patienten mit schweren epileptischen Anfällen.

Grundsätzlich ist Epilepsie in den meisten Fällen nicht heilbar. Bei Kindern und Jugendlichen wächst es sich oft heraus. Die Epilepsie-Chirurgie kann auch als eine Heilung angesehen werden, je nachdem, was für eine Form der Auslöser hat. So kann ein kleines Blutschwämmchen an der Spitze des Schläfenlappens neurochirurgisch hervorragend entfernt werden. Ein bis zwei Jahre später können die Medikamente abgesetzt werden. Dann bleiben diese Menschen anfallsfrei.

Ein einzelner Anfall endet normalerweise von selbst und dauert nur ein paar Sekunden, bis zu 80 Sekunden. Aber wenn Anfälle nicht aufhören, kann es lebensbedrohlich werden. Mediziner sprechen dabei von einem "Status epilepticus". Es kann sein, dass die Mechanismen des Gehirns, die den Anfall auch beenden sollen, nicht greifen. Die Anfälle gehen immer weiter. Körper und Gehirn halten das auf Dauer nicht aus. Dieser Zustand ist der Notfall der Epilepsie. Betroffene Menschen werden dann auf der Intensivstation behandelt.

Dann gibt es das Phänomen des sogenannten SUDEP (sudden unexpected death in epilepsy patients), des plötzlichen Todes bei Epilepsie-Patienten. Dabei gehen Mediziner davon aus, dass nach einem großen Anfall das Atemzentrum eingeschränkt ist und die Betroffenen auf Dauer nicht mehr atmen können, wenn nicht schnell geholfen wird. Wenn dann eine gewisse Menge an Kohlendioxid im Blut erreicht wird, führt das zu einer weiteren Hemmung und es kann zu einem Herzstillstand führen. SUDEP kommt selten vor: einer von 900 Patienten im Jahr.

Grundsätzlich sollte Menschen mit Epilepsie vorsichtig sein bei folgenden Tätigkeiten:

  • alleine Baden
  • alleine Spazierengehen an Gewässern
  • gefährliche handwerklichen Tätigkeiten wie auf Leiter steigen
  • Autofahren (Menschen mit Epilepsie haben oft Fahrverbot)

Bei schweren epileptischen Anfällen sollte der Betroffene in eine stabile Seitenlage gebracht werden. Bei kleinen Anfälle ist es wichtig, einfach für den Menschen da zu sein. Ein Beispiel: Man sieht jemanden, der auf dem U-Bahnsteig einen Anfall hat, der verwirrt wirkt. Das ist zu tun: Vorsichtig ein bisschen führen, für ihn da sein, nicht mit Gewalt versuchen, ihn aufzurütteln oder aus dem Anfall herausholen. Er könnte aggressiv werden. Wenn der Betroffene langsam wieder wach wird, ruhig ansprechen, um zu testen, ob es ihm wieder besser geht. Ein Ansprechen während des Anfalls hilft nicht, den Anfall zu durchbrechen.

Ein gesundes Leben hilft immer, auch gegen epileptische Anfälle, vor allem im fortgeschrittenem Alter:

  • ausgewogenes Essen
  • Blutdruck gut einstellen
  • Ausdauersport