NSU-Prozess


2

NSU-Prozess: Gerichtssaal-Protokoll 5. Verhandlungstag, 4.6.2013

Der Verhandlungstag beginnt zunächst wieder mit Anträgen der Verteidigung auf Einstellung oder Aussetzung des Verfahrens aus verschiedenen Gründen - sie werden alle abgelehnt. Am Nachmittag folgt die erste Aussage von Carsten S.

Von: Frank Bräutigam, Holger Schmidt, Rolf Clement, Stefan Schölermann, Hans Pfeifer

Stand: 04.06.2013 | Archiv

NSU Prozess Gerichtsprotokoll | Bild: BR

Carsten S. berichtet zunächst vor allem Biografisches und Details zu seinem Einstieg in die rechte Szene. Auch zur Beschaffung und Übergabe der Tatwaffe an das Trio Zschäpe-Mundlos-Böhnhardt nimmt er Stellung.

ARD-Reporter über das Geschehen im Gerichtssaal

(Frank Bräutigam, SWR)
9.13 Uhr.
Keine Schlangen draußen, Tribüne aber inzwischen gut gefüllt. Klimaanlage scheint zu funktionieren, aber mal abwarten. Die drei Verteidiger der Hauptangeklagten Beate Zschäpe, Wolfgang Heer, Wolfgang Stahl und Anja Sturm, verkabeln sich gerade, sonst noch kaum einer im Gerichtssaal da.

(Holger Schmidt, SWR)
9.15 Uhr.
Zuschauerraum ist gut gefüllt, erste Anwälte trudeln ein: Anja Sturm, Wolfgang Heer und Johannes Pausch, Verteidiger von Carsten S. Sturm bastelt an einem großen schwarzen Monitor herum, den sie sich offenbar aufstellen will. Das Teil hatte sie schon mal dabei, aber noch nicht aufgestellt.

(Holger Schmidt, SWR)
9.30 Uhr.
Offenbar Verzögerung. Vertreter des Generalbundesanwalts (GBA) sind vollständig da, es fehlen aber noch einige Verteidiger und alle Angeklagten. Kamerateams und Fotografen konzentrieren sich auf den Nebenklägerbereich.

(Rolf Clement, DLF)
9.33 Uhr.
Tribüne ist voll, Nicht-Journalisten werden bei Handy-Nutzung und mit Notizblocks kontrolliert, scheint mir heute etwas strenger als beim letzten Mal.

(Holger Schmidt, SWR)
9.45 Uhr.
Angeklagte kommen herein, Zschäpe in schwarzem Hosenanzug mit roter Bluse, Wohlleben mit dunkelblauem Hemd und mit rotem Pulli. Carsten S. mit üblichem Kapuzenpulli, sitzt gebeugt, die Hände übereinander. André E. mit dunkelrotem Trainingsanzug. Senat tritt um 9.49 Uhr ein.

(Stefan Schölermann, NDR)
9.55 Uhr.
André E. trägt Trainingsjacke mit Logo der Firma "Fred Perry", eine aus England stammende Marke, die in rechten Szenekreisen beliebt ist. Die Marke selbst hat mit der rechten Szene nichts zu tun. 2009 untersagte die Berliner Polizei ihren Beamten, bestimmte Marken zu tragen, da sie auch von der rechten Szene getragen würden. Zu den Marken auf dem Index zählte auch "Fred Perry". Während der ersten Prozesstage trug André E. eine Zimmermannshose. Diese Hosen gelten zugleich als Erkennungszeichen der verbotenen "Heimattreuen Deutschen Jugend".

(Hans Pfeifer, DW)
9.58 Uhr.
Carsten S. wirkt zum ersten Mal anwesend, sieht sich im Saal um, sitzt aufrechter. Schließt seinen Laptop an. Redet, während der Richter die Präsenz abfragt, mit seinen Verteidigern.

(Holger Schmidt, SWR)
10.05 Uhr.
Zweimal Antragsbescheidung durch Senat. Beschluss: Aussetzungsantrag wird abgelehnt.
Antrag 15. Mai 2013 auf Aussetzung wird abgelehnt. Behauptet wurde: U-Ausschuss-Unterlagen noch nicht oder erst kurz vor Prozess eingegangen. Senat hält Aussetzung trotzdem nicht für geboten. Es seien zunächst fünf Verhandlungstage und später zwei weitere weggefallen, diese Zeit konnte zur Einarbeitung genutzt werden. Zudem zwei Wochen Pause. Aussetzung nicht geboten.
Beschluss: Antrag, GBA soll sämtliche Aktenbestandteile vorlegen, wird abgelehnt. Sachlich nicht gebotene Ausweitung des Akteneinsichtsrechts würde Verfahren erschweren. Erheblich nur der Stoff, der in die Verhandlung eingeführt ist. Zschäpe kann weitere Akten beim GBA einsehen, wenn sie es wünscht.

(Holger Schmidt, SWR)
10.20 Uhr.
Zwei Wohlleben-Anträge vom Senat abgelehnt (Senatsbeschluss), Abberufung der GBA-Vertreter Herbert Diemer und Anette Greger von Richter Manfred Götzl abgelehnt (Vorsitzender-Beschluss).
Zwei weitere Wohlleben-Anträge abgelehnt: Antrag auf Aussetzung wird abgelehnt wegen unvollständiger Akten. Behauptung: Vermerk über Festnahme fehlte, Lichtbilder unvollständig, teilweise nur schwarz-weiß. Zu Festnahme von Zschäpe: Vermerk befindet sich in den Akten im 56. Band. Lichtbilder: kein Anspruch auf Vollständigkeit in den Akten, denn Asservate können besichtigt werden. Qualitätseinbußen beim Scannen können durch Einsicht kompensiert werden. Kein Anspruch auf besondere Qualität der Bilder.
Antrag der Wohlleben-Verteidigung auf Einstellung wird abgelehnt (Vorverurteilung und Beteiligung Geheimdienste). Keine objektiven tatsächlichen Anzeichen für die Gefährdung eines fairen Verfahrens. Keine nachvollziehbaren Tatsachen für die theoretischen Überlegungen der Anwälte. Diese haben den Senat selbst als "standhaft" bezeichnet. Allgemeine mutmaßende Überlegungen können das Verfahren nicht in Frage stellen. Auch Einmischung der Politik sei eine reine Vermutung. Auch geheimdienstliche Verstrickung ist bloße Vermutung und nicht nachvollziehbar.
Schließlich Verfügung des Vorsitzenden Richters: Hinwirken beim GBA auf Abberufung von Diemer und Greger wird abgelehnt. Hier könnte Verteidigung noch Senatsbeschluss verlangen.

(Frank Bräutigam, SWR)
11.32 Uhr.
Sturm stellt Antrag zur Einstellung des Verfahrens, nach § 260 III StPO wegen unheilbarer Verfahrenshindernisse. Begründung: beispiellose Vorverurteilung durch GBA. GBA hat nicht alles vorgelegt. Akten wurden im Ermittlungsverfahren vernichtet. Vorverurteilung durch GBA: "Mitglied einer Mörderbande", Mitglied des Terrortrios. Öffentliche Erklärungen durch Politiker. Erst in Hauptverhandlung sollte Existenz des Tatverdachts geklärt werden und ob andere Vorwürfe richtig sind. Unschuldsvermutung muss von staatlichen Organen beachtet werden. GBA-Pressekonferenz am 1. Dezember 2011: "Wir ermitteln nicht gegen die NPD, sondern gegen Gruppe, die sich NSU nennt. Die Gruppierung besteht aus …" Ging von Existenz aus, nicht mutmaßlich, auch Mandantin nicht mutmaßlich.
Jörg Ziercke, Präsident des Bundeskriminalamts: "Kenntnisse über Bewegungen der Mörderbande sind wichtig. Unterstützer gilt es zu finden." Nicht mutmaßlich, Mandantin Terroristin genannt.
28. Juni 2012: Ziercke erneut vor U-Ausschuss des Bundestags: "Mörderbande", "Das nimmt auch 3. Strafsenat des BGH an." Äußerungen flossen unmittelbar in Ermittlungen ein. Nennt Beispiele von Zitaten aus Zeugenvernehmungen, es gehe immer unter anderem um "Zwickauer Terrortrio".
Politikeräußerungen, keine private Meinungsäußerungen.
Thüringens Ministerpräsidentin Christine Lieberknecht am 17. Juli 12: "Mördertrio Unwesen getrieben." Schäuble vor U-Ausschuss: "Habe Beckstein neulich getroffen. Hättest Du Dir vorstellen können, dass die Mörderbande rechts ist?"
Arbeit der U-Ausschüsse hoch zu würdigen, aber auch dort Vorverurteilungen.
Verfahren soll eingestellt werden. Gründe können unmittelbar aus Verfassung abgeleitet werden. Nicht mehr sichergestellt, dass rechtsstaatliche Grundsätze eingehalten werden. Mandantin als Objekt, stand als Täterin schon von Anfang an fest. Eklatante Verletzung, § 160 II StPO. Verfassungsschutzämter haben Schutz der Quellen (V-Leute) über alles andere gestellt, erst U-Ausschüsse und Medien haben viel aufgedeckt. Fairer Prozess nicht mehr möglich, Art. 6 Europäische Menschenrechtskonvention. Verweis auf Richtlinien für Öffentlichkeitsarbeit für Richter und Staatsanwälte. Gravierend: indirekte Beeinflussung von Zeugen durch vorverurteilende Äußerungen. Können nicht mehr unterscheiden, was eigene und was Fremdinformation ist. Erfolgsdruck der Vorgaben des GBA. Beeinflussung bezieht sich nicht auf den Senat selbst. Geht ihnen nur um Entwertung der Beweismittel durch Vorverurteilung.

Antrag Ende. Stellungnahmen zu Antrag nach Mittagspause. Vorgesehen auch Einlassungen der Angeklagten.
Mittagspause bis 13.10 Uhr.

(Frank Bräutigam, SWR)
13.20 Uhr.
Angeklagte kommen rein. Carsten S. ist mit Anwälten eine Reihe weiter vor gezogen, sitzt jetzt direkt hinter Zschäpe.

Stellungnahmen GBA zu Anträgen.
Zu Vorverurteilung: Rechtsprechung Bundesgerichtshof/Bundesverfassungsgericht, Verstoß gegen faires Verfahren nur in extremen Ausnahmefällen, Einstellung als Folge. Hier nicht. Wer die Akten wirklich kennt, sieht, dass stets Unschuldsvermutung beachtet wird. (Zschäpe hört genau zu.) Begriffe wie "Terrortrio" sind schlagwortartige Verkürzungen, zulässig, wenn aus Gesamtschau ergibt, dass Unschuldsvermutung gewahrt bleibt.

Zu V-Personen: Im Zentrum des Ermittlungsverfahrens stehen die Straftaten und beschuldigten Personen. Sind allen Ermittlungsansätzen nachgegangen. Alles andere reine Spekulation.
Zu Aktenvernichtung: GBA hat alle relevanten Akten vorgelegt. Vernichtung beseitigt nicht staatlichen Strafanspruch.
RA Edith Lunnebach (Nebenklage-Anwältin der Opfer des Anschlags in der Kölner Probsteigasse): Ermittlungsdruck ist da. Damit muss man leben. Nur durch "mutmaßlich" kann man Druck nicht verhindern. Aus unserer Sicht nicht nur "Trio", sondern größerer Zusammenhang.
Weiterer Nebenklage-Anwalt: U-Ausschuss darf sich eigene Meinung bilden.
RA Olaf Klemke (Verteidigung Wohlleben) schließt sich Antrag an.
13.41 Uhr: Richter Götzl will gerade anfangen mit Vernehmung, als die Nebenklage einen weitere Anträge stellt: Das Gericht möge bekanntgeben, ob festgestellt wurde, ob Prozessbeobachter im Auftrag des Bundeskriminalamts (BKA) oder des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV) im Saal sind. Wenn ja, solche Beobachter mögen vom Prozess ausgeschlossen werden. Gründe: Das würde Beweisaufnahme gefährden. Am 15. Februar 2013 habe BKA angekündigt, Beobachter in Prozess zu schicken: zwei Beamte pro Tag, die sich beim Vorsitzenden Richter anmelden. Grund: neue Ermittlungsansätze prüfen etc. Ähnliche Absicht kündigte auch BfV an. BfV habe großes Interesse an Prozess, Grund nicht genannt.
Götzl: Bei mir haben sich keine Prozessbeobachter angemeldet.
Verteidigung von Zschäpe schließt sich Antrag der Nebenklage an, hatte ähnlichen Antrag vorbereitet.
Verteidigung von Wohlleben schließt sich ebenfalls an.
Götzl fragt ins Publikum, ob Mitglieder von BKA etc. im Publikum sind.
Keiner steht auf.
Zehn Minuten Pause.

(Frank Bräutigam, SWR)
14.20 Uhr.
Antrag von Sturm: Offiziell bei Behörden anfragen, ob diese Beobachter hier haben.
Antrag von Heer: Zu Beginn eines jeden Hauptverhandlungstages feststellen, ob Prozessbeobachter auf Empore sind.
Heer: Antrag über Antrag sofort entscheiden.
Götzl: Für heute erledigt, weil sich keiner gemeldet hat.
Heer: Vielleicht haben sie keine Genehmigung, sich zu melden.
20 Minuten Pause.

(Frank Bräutigam, SWR)
14.57 Uhr.
Anträge, Mitarbeiter der Behörden des Saales zu verweisen, werden abgelehnt. Im Hinblick auf Grundsatz der Öffentlichkeit nur, wenn als Zeugen in Betracht kommen.
Heer will Gerichtsbeschluss.
Verteidigung von Wohlleben und einige Nebenkläger schließen sich an. Beantragt, darauf hinzuwirken bei Präsidenten der Behörden, dass man keine Beobachter schickt.
RA Thomas Bliwier (Nebenklage-Anwalt der Angehörigen des ermordeten Halit Yozgat): Irgendwann Herrn Temme als Zeuge laden, war am Tatort Kassel anwesend.
Hier dürfe kein Beobachter des BfV im Saal sein.
Unterbrechung bis 15.20 Uhr.

(Holger Schmidt, SWR)
Pause bis 15.20 Uhr.
Senat berät Anträge zum BKA- und BfV-Ausschluss, nachdem die Zurückweisung des Vorsitzenden Richters beanstandet worden war. Nun also Senatsbeschluss.

(Frank Bräutigam, SWR)
15.30 Uhr.
Verfügung des Vorsitzenden Richters wird bestätigt im Hinblick auf Öffentlichkeitsgrundsatz: keine konkreten Tatsachen, dass Behörden sich unlauter verhalten.

Nun soll der Angeklagte Carsten S. vernommen werden.
Heer stellt Antrag, dass die Erklärungen der Angeklagten Carsten S. und Holger G. zur Sache vollständig wörtlich protokolliert werden. GBA stützt sich maßgeblich auf Aussagen der beiden, besonders bzgl. G., der mehrfach die Unwahrheit gesagt habe. Beide Erklärungen zur Sache werden Basis für prozessuale Anträge sein. Voraussetzung, dass es auf Wortlaut ankommt. Hier der Fal, für Entscheidungsfindung zentral. Nachdem die vollständige Prozessprotokollierung abgelehnt wurde, ist sie zumindest Carsten S. und Holger G. geboten.
Diemer: schon zu Beginn gestellt und abgelehnt. StPO sieht das nur für Einzelfälle vor.
Verteidigung von Wohlleben schließt sich an.
Götzl: Wörtliche Protokoll abgelehnt, da es auf genauen Wortlaut nicht ankommt. Gegebenenfalls muss im Einzelfall darüber entschieden werden.
Heer will Senatsbeschluss, den bekommt er.
Fortsetzung um 15.40 Uhr.

(Holger Schmidt, SWR)
15.45 Uhr.
Anträge abgearbeitet, jetzt beginnen Angaben von Carsten S.

(Hans Pfeifer, DW)
16.17 Uhr.
Zu Aussagen Carsten S.: Er redet unaufgeregt und unbefangen über seine schulische und berufliche Biographie - ohne größere emotionale Ausführungen. Auch seine Beschreibungen der familiären Verhältnisse sind nüchtern. S. beschreibt nebeneinander die bipolare Störung seiner Mutter und kleine Streitigkeiten mit dem "oft rigiden Vater" am Essenstisch. Auf die Frage des Richters, was seine Schwester beruflich macht, antwortet er zögerlich: "Ja … irgendwas mit Warenausgang." Dabei sagt er, dass er seit seinem Ausstieg Kontakt zu seiner Schwester hat und er sich bei ihr geoutet hat. Seine Familienschilderungen wirken etwas beziehungslos.
Seine Äußerungen über seine ersten Erfahrungen mit seiner Homosexualität wirken dagegen selbstbewusster, reflektierter. Er erzählt, wie er mit 13 einen Film mit River Phoenix und Keanu Reeves aufnimmt und wie sein Vater ihm den Film mit den Worten wegnimmt: "Sowas guckt man bei uns nicht."
Während er redet, schauen nach kurzer Zeit alle anderen Angeklagten nur noch vor sich hin. Nur André E. schaut über die Schulter zu ihm hin.

(Holger Schmidt, SWR)
16.50 Uhr.
Angaben Carsten S.: 6. Februar 1980 in Neu-Delhi geboren, in den ersten Monaten nach Deutschland gekommen, weil meine Mutter eine Wochenbettpsychose hatte. Mit vier Jahren in Belgrad, wieder Psychose, wieder zurück nach Deutschland, nach Jena bis 1996, Realschule. 1996 in Springe Konditorlehre, drei Monate Probezeit nicht geschafft. Nach Jena, Arbeitsamt, es gab drei Ausbildungen, habe mich für den KfZ-Lackierer entschieden, 1999 beendet. 2000 im Mai bei Zeitarbeitsfirma beworben, weil ich nach zurückgezogener Einberufung der Bundeswehr kein Arbeitslosengeld mehr hatte. 2002 Insolvenz, zeitgleich Fachabitur, erfolgreich, dann nach Hürth über Zentralstelle für Vergabe von Studienplätzen, Köln, Düsseldorf. Nach drei Monaten Pendeln Umzug, Studium begonnen. Von Anfang an im Schwulenreferat engagiert, im zweiten Semester im schwul-lesbischen Aufklärungsreferat, Kontakt Aidshilfe, Praxissemester, danach ehrenamtlich, dann halbe Stelle MsM. 2009 Diplom-Sozialpädagoge, Stelle zum Aufbau eines schwul-lesbischen Jugendzentrums. Job hatte ich noch im Februar 2012.
Götzl: Elternhaus?
S: Ich fange mal an beim Kindergarten, in den ich gegangen bin, auch irgendwann allein nach Hause gegangen.
G: Was machen die Eltern?
S: In Indien und in Belgrad sind wir gewesen, weil mein Vater bei Carl Zeiss gearbeitet hat. Beide Eltern sind über 60, Mutter nach Wende arbeitslos, Stelle in Rechtsanwaltsbüro bis vor drei bis vier Jahren. Probleme mit dem Lithiumspiegel, bipolare Störung, Frührente.
G: Verhältnis zu Eltern damals und heute?
S: Gut gewesen, kann Urlaube erinnern, Schwester schon mit 18 aus dem Elternhaus raus. Gab Spannungen, Streitigkeiten zwischen den Eltern, mein Vater hat eine schwierige Kindheit gehabt. Habe ihn als rigide erlebt. Beim Essen nicht sprechen, nicht lachen, Vater rausgelaufen, Tür geknallt. "Es war gemischt".
G: Position der Mutter?
S: Eher für die Kinder. Er hat das wahrgenommen als ihm in den Rücken fallen. Das ist die Kindheit. Das hat sich danach entspannt. Wir als Kinder haben ihn auch oft provoziert. Schwester ist sieben Jahre älter als ich. Schwester durfte bis acht Uhr draußen bleiben, ich bis zehn Uhr. Schwester ist berufstätig, Warenein- und -ausgang, verheiratet, hat Kind. Kontakt ist seit 2000, seit dem Ausstieg, besser geworden.
G: Was meinen Sie?
S: Sie war die erste Person, bei der ich mich geoutet habe. Seit ich 13 war, hatte ich das Gefühl, dass etwas nicht stimmt. Es gab "Menstruationsheftchen", bei denen alle Jungs die Mädels aufgeschlagen haben und ich habe gesagt, die Jungen sind doch viel interessanter. Mit 14, 15 habe ich in der "Bravo" gelesen, das sei eine Phase, die vorbeigeht, darauf habe ich gehofft. Dann habe ich einen Film gesehen mit River Phoenix und dem Thema "Schwul". Den habe ich nachts heimlich aufgenommen und nach der Schule war der Film weg. Vater: "Sowas wird hier nicht geguckt." Habe versucht, mich anzupassen.
Als in der Schule Wahlmöglichkeit kam, habe ich Biologie als Wahlpflicht genommen und bin in diesem Kurs massiv gemobbt worden, Beschimpfung als Mädchen.
Bin in Springe in eine Gruppe gekommen auf einem Platz zwischen der Konditorei und meinem Wohnhaus. Ganz normale Jugendliche, habe mich angefreundet. Mitgenommen nach Hannover, wo die Frauen im Schaufenster standen. Auch Unterführung mit Junkies. So was hatte ich noch nie gesehen.
In Eisenach im Lehrlingswohnheim Marco H. kennengelernt, der rechtsradikal war und der mir gut gefallen hat - so erkläre ich es mir heute. Er hat mir Musik vorgespielt, da habe ich die "Zillertaler Türkenjäger" gehört. Das fand ich damals lustig. (André E. schmunzelt, trinkt einen Schluck Wasser, um es zu verbergen). Ich habe mir dann auch die Musik und die Klamotten besorgt. Habe November 1996 begonnen, mich so zu kleiden.
Am 1. März 1997 die NPD-Demo in München: Habe mich um einen Platz gekümmert, habe ihn über einen früheren Klassenkameraden bekommen. War die größte NPD-Demo seit Gründung der Bundesrepublik. War gegen die Wehrmachtsausstellung. Dort habe ich Christian K. wiedergetroffen. Habe gefragt, wie ich in Jena Kontakt bekommen könnte. Postfachadresse. Kam aber nichts zurück. Habe dann Ende 1997 von einer Veranstaltung in Lobeda gehört und bin da mit. NPD Thüringen. Da bin ich am nächsten Tag nach Furth im Wald gefahren. JN-Kongress am 18. Oktober 1997 mit Christian und André K. Kam in einer "Simson" angefahren, das habe ich noch in Erinnerung.
Ende 1999 Anfang 2000 kamen Zweifel auf. Sollte JN-Landesvorsitzender werden, habe den Satz im Kopf, dann komme ich nicht mehr raus. Dann im April kam der Film "A Beautiful Thing", da kamen mir die Tränen und für mich stand fest: Ich muss hier raus, wusste aber nicht wie.
Wollte erst mal inaktiv werden, Freundeskreis hatte ich außerhalb der Szene nicht mehr. Kam step by step. Habe Spruch von Freund in den Ohren: "Carsten, Du musst aufpassen, der zieht an Dir vorbei!" war mir egal.
August 2000: Hausdurchsuchung im Rahmen der Rudolf-Heß-Aktion, wir hatten es schon munkeln hören. Für Samstag war Tschechien-Reise geplant, hatte aber noch Nachtschicht. Zehn Tage Unterbindungsgewahrsam. Eltern standen vor der Tür, das hat mir geholfen, sie sind mit mir nach Hause gefahren. Bin rüber gegangen, gegenüber wohnte Wohlleben. Bin ausgelacht worden. Hat mir eins oben drauf gegeben - und ich wusste, Eltern stehen hinter mir.
Letzter Meilenstein: zwei, drei aus der Jugendgruppe JN. Wohlleben sagte, mich würde es ankotzen, wenn jemand sagen würde, dass ich schwul wäre. Satz ging mir die ganze Nachtschicht durch den Kopf: Das sind nicht Deine Leute, ich wusste, ich muss da weg. Bin zu meiner Schwester, habe mich da geoutet. War sehr schlimm, habe eine Flasche Wermut getrunken.
Dachte: Wenn ich aussteige, muss ich weg aus Jena. Ängste haben sich gelegt. Wusste, dass mich das Fachabitur weiterbringt. Mit 1,9-Schnitt war das sogar ganz gut, weil ich mein Ziel vor Augen hatte und ganz bei der Sache war. Bis 2002 habe ich mich ganz gut gefunden. Intention war: wegkommen aus Jena. Hatte im Kopf Berlin und Köln, Berlin war mir zu groß.
Probleme gesundheitlicher Art: häufige Durchfälle. Therapie hat mir sehr geholfen, über meine Gefühle klar zu werden, danach freieres Gefühl gehabt.
2007 erste längere Beziehung, zuvor zwei Beziehungen, jeweils kürzer: zwei bis drei Monate. Hatte immer Traumprinz in Erinnerung, deswegen hat es nicht geklappt.
Für Eltern war es ok, sie haben aber immer wieder gehofft, dass es vorbeigeht. Mutter hat mir mal gesagt, dass sie das Gefühl hat, es macht mir das Leben in der Gesellschaft schwerer.

Götzl: jetzige Situation?
S: Will ich erst mal nichts zu sagen.
G: Es geht mir nicht um Zeugenschutz
S: Kann ich nix zu sagen.
G: Scheitern der ersten längeren Beziehung?
Jacob Hösl (Verteidiger von Carsten S.): Jetzt kommen wir in den problematischen Bereich.
G: Ende Beziehung 2002?
S: Chemie hat nicht gestimmt. Ich habe von ihm nicht Paroli bekommen, was ich brauche.
G: Ganz zu Anfang ihrer Biographie: in Indien geboren, wann nach Jena?
S: Schon Monate später. Wochenbettpsychose.
G: Ihre Rolle bei Autoaufbrüche?
S: Spannend, heiß, interessant. Keine Erinnerung, dass das öfter war.
G: Welche politischen Ämter hatten sie inne?
S: Ich meine: 1999, NPD-Kreisverband. Wir waren vier, fünf oder sechs Leute. Da bin ich stellvertretender Kreisvorsitzender geworden. Vorsitzender war Ralf Wohlleben. Ob ich gefragt habe oder bestimmt wurde, weiß ich nicht mehr. Tino Brandt hatte ausgemacht, dass ich stellvertretender JN-Bundesgeschäftsführer geworden bin. Vorsitzender war Herr Delle. Habe ihn gefragt, was ich da machen soll. Delle sagte, das klären wir dann noch. Erste Sitzung gleich danach, zweite nach meiner Haft wegen Heß-Marsch, habe ich passiv abgesessen. Ich sollte JN-Landesvorsitzender werden.

(Holger Schmidt, SWR)
17.10 Uhr.
Pause bis 17.20 Uhr

(Frank Bräutigam, SWR)
17.30 Uhr.
Götzl: Unterbindungsgewahrsam 2000, warum?
S: Kenntnis, dass Polizei kommt. Kreisverband Jena war 1999. Zum Ausstieg nochmal: Jetzt finde ich zu mir, viel eingeströmt. Wollte schon 1996 auf Loveparade, habe es 2001 auch gemacht. Musik, die ich hören wollte. In Szene keine Techno-Musik. Geschaut, was ich eigentlich möchte.
G: Zur Vorgeschichte der Vorwürfe jetzt, wie die drei kennengelernt.
S: 1997 André K., danach Wohlleben, die drei (Uwe Böhnhard, Uwe Mundlos, Beate Zschäpe). Erinnerungen an zwei, drei Treffen in der Wohnung von Zschäpe. Zusammen mal in Jugendclub gegangen. Christian K. angerufen, können wir vorbeikommen, hatte sturmfrei. André und Christian K., beide Uwes und Zschäpe (zwei Plastetüten zum Überziehen für die Springerstiefel gesucht).
Zu Demo in München auch einer der Uwes gefahren. "Tagesthemen" am 13. März 2012 mit Foto Zschäpe bei Demo in Erfurt, da habe ich mich wiedererkannt. Demo war 1998. Drei, vier Erinnerungen vor Untertauchen. Dann waren sie fort, ging durch die Presse.
André K. und Wohlleben sprachen mich an, ob ich den dreien helfen könnte. Ging um Telefonkontakt, weil die beiden Überwachung fürchteten. Kann sein, dass ich was überweisen sollte. Glaube, ich habe nichts überwiesen.
Ging mit Telefonkontakten los. Haben mir gezeigt, wie das funktioniert: über Telcel Handy anrufen, Rückruf bekommen. Hauptsächlich zwei Uwes in Erinnerung, einmal Zschäpe am Telefon. Irgendwann dann alleine gemacht. Entweder verabredet oder alle zwei Wochen. Wenn Termin auf Mailbox gesprochen war, habe ich das Wohlleben gesagt und Gesprächsinhalte weitergegeben.
Irgendwann dann Handy besorgt.

(Frank Bräutigam, SWR)
17.46 Uhr.
(Diese Unterstützungshandlungen kann man alle nicht mehr bestrafen, weil verjährt. Bei ihm geht es letztlich nur um die Waffenlieferung.)
Handy besorgt, mit Wohlleben besprochen. Karte zu Hause gehabt. Noch eingefallen: Handy schon Ende 1998 gehabt. 1998 oder 1999 gab es Bitte von Uwes, in Ex-Wohnung Zschäpes einzusteigen, um Akten und Ausweispapiere zu holen. Wohlleben hat Jürgen H. genannt, mit dem soll ich das machen, der hat Schmiere gestanden. Reisetasche geborgt.

(Frank Bräutigam, SWR)
17.54 Uhr.
S: Tür eingetreten, Sachen eingepackt, lag Fahne auf Boden, die hing früher aus Fenster raus. Draußen Sirene gehört, versteckt. Jürgen H. angerufen, rausmachen. Losgelaufen, H. getroffen, mit ihm geflüchtet.
Mit Wohlleben die Tasche ausgeräumt. Ausweispapiere vergraben, Akten in die Rhoda geworfen. Order, ein Motorrad zu besorgen, hatte noch keines gestohlen, bin zu Wohlleben, der wusste auch nichts.
Die waren genervt: "Kleener, das gilt jetzt nicht Dir, das sollst Du weitergeben."
Haben mich nicht mit Namen angesprochen, sondern mit "Kleener". Wohlleben und Carsten S. mit Bolzenschneider nach Lobeda-West, Schloss durch, Rad geschoben, versteckt. War dann geklaut, war uns ganz recht. Die haben sich aufgeregt, hatte sich erledigt.
Götzl: Wen meinen Sie mit "wir"?
S: Wohlleben und mich.

(Frank Bräutigam, SWR)
18.14 Uhr.
Götzl: "Die" haben sich aufgeregt, wer?
S: Die beiden Uwes. Oft waren beide dran, mal auch einer. Haben Telefon hin und her gegeben.
G: Warum war es recht, dass Motorrad weg?
S: Mussten es nicht mit Transporter irgendwo hinbringen. Wir müssen nichts weiter machen. Stimmung oft: Hoffentlich kommt da nichts wieder, am besten, wenn alles in Ordnung.
G: Was meint Update?
S: Ich sollte Mailbox regelmäßig abhören, darauf Nachrichten, ob alles in Ordnung.
G: Und dann kam der Wunsch nach der Waffe.
S: Irgendwann kam der Wunsch nach einer Waffe, möglichst deutsches Fabrikat. Handfeuerwaffe mit Munition. Zu Wohlleben gegangen und ihm das gesagt. Er hat gesagt, ich soll zu S. gehen im "Madley"-Laden. Der: Ich höre mich mal um, soll nachfragen. Nächstes Mal sagte er, dass es eine gebe, eine osteuropäische Waffe - mit Schalldämpfer. Was anderes gibt‘s nicht. Es gab nur eine. Damit ging ich zu Wohlleben und sagte ihm auch die Kosten. Habe ok bekommen, zurück, ok gegeben. Geld von Wohlleben bekommen, Waffe dort abgeholt. Kann mich nicht an Autofahrt erinnern. Laut S., Waffenhändler im "Madley"-Laden, Waffe schnell unter Autositz geschoben.
Habe Führerschein wieder verloren, muss März/April 2000 gewesen sein. Wurde gesagt, dass ich nach Chemnitz fahren soll, Waffe hinbringen. Bin mit Bahn nach Chemnitz gefahren. Beide Uwes haben mich abgeholt vom Bahnhof. Einer der Uwes hat gesagt, dass ich Pullover mit "ACAB"-Schriftzug ("All Cops Are Bastards") ausziehen soll. Bin in Einkaufszentrum in ein Café. Zschäpe kam kurz dazu. Ging auch darum, Anwaltsvollmachten zu unterschreiben. Ist zeitnah wieder gegangen. Mit Uwes in Abbruchhaus gegangen. Drinnen habe ich die übergeben. Muss auch Geld bekommen haben, hatte Geld zu Hause. Einer der beiden hat Schalldämpfer draufgeschraubt. Dann kam jemand, hat gestört, raus hier. Dann irgendwie zurück. Ging auch noch irgendwie darum, Ausweise zu besorgen.
G: Welches Geld meinen Sie?
S: Geld für die Waffe.
G: Wunsch nach Waffe näher erklären!
S: Von beiden Uwes geäußert. In der Regel waren immer irgendwie beide dran, einer hat gesprochen, der andere was dazwischen gesagt. Helle Stimme präsent, eher Mundlos.

(Frank Bräutigam, SWR)
18.28 Uhr.
G: Waffe genauer beschreiben!
S: Waffe, Munition, deutsches Fabrikat.
G: Etwas davon erfahren, für welchen Zweck?
S: Nein.
G: Nachgefragt?
S: Nein.
G: Gedanken gemacht? (Zschäpe schaut sich um.)
S: Ich versuche, mich zu erinnern, aber in Erinnerung, dass nichts Schlimmes passieren wird. "Positives Gefühl, dass die drei in Ordnung wären."
G: War von Schalldämpfer die Rede?
S: Erst bei Waffenhändler, hat gesagt, es gibt nichts anderes, war aber vorher nie benannt. Hingegangen, ob er was da hat. Da er nur die eine da hatte, dann wohl Order bekommen, die nehmen wir.
G: War gegenüber den Uwes von Schalldämpfer die Rede?
S: Weiß nicht. Aber meine nicht, dass ich das dann nochmal abgesprochen hätte. Nicht erst bei Übergabe gesagt. Waren zwar überrascht, aber vielleicht vorher noch nicht gesehen.
G: Was ist mit Herrn Wohlleben besprochen worden?
S: "Geh zu S.!" War eher nicht zusammen mit ihm da. Nach Abholen zu Wohlleben gebracht und zusammen angeschaut. Dann im Kinderzimmer unterm Bett versteckt.
G: Waffe angesehen, was gesprochen?
S: Bild: Wohlleben hat Schalldämpfer draufgeschraubt, Lederhandschuhe an.
G: War das normale Sache? Was wurde besprochen?
S: An Gespräch kann ich micht nicht erinnern.
G: Wer waren "die drei"?
S: Mundlos, Böhnhardt, Zschäpe.
G: Was wussten Sie über die?
S: Nichts. Waren autark untergetaucht.
G: Was meint untertauchen?

(Frank Bräutigam, SWR)
18.36 Uhr.
S: Erinnerung, dass Durchsuchung war, "Rohrbombenattrappen". Habe das nicht live mitbekommen. Habe "Progromly"-Spiel mitbekommen. André K. hatte Spiel im Auto.
G: Woher Infos zu den dreien?
S: Kripo live im MDR, Zeitung gelesen oder Wohlleben hat es mir erzählt. Wir sind nie ins Plaudern gekommen. Die haben mich auch nie was gefragt, wie es bei uns so läuft.

Ende.

Hinweis

Diese Texte sind eine Auswahl der Mitschriften der Reporter der ARD und des BR während der zentralen Verhandlungstage im sogenannten "NSU-Prozess", eines beispiellosen Verfahrens der deutschen Rechtsgeschichte. Wir dokumentieren diesen "Originalton", weil es in der deutschen Praxis des Strafprozessrechts, selbst bei derartig wichtigen Verfahren, kein offizielles und umfassendes Gerichtsprotokoll gibt. Wir erfüllen damit unsere Informationspflicht, um allen, die keinen der begehrten Sitzplätze im Gerichtssaal erhalten haben, einen - durchaus auch subjektiven - Eindruck der Prozessereignisse zu vermitteln. Die Zusammenfassungen der sogenannten "Saalinfos" unserer Reporter sind redaktionell bearbeitet, zum Teil gekürzt. Es wird kein Anspruch auf Vollständigkeit erhoben und es kann natürlich auch keine Gewähr für die Richtigkeit jedes einzelnen Wortes gegeben werden. Die Redaktion distanziert sich ausdrücklich von den Inhalten der Aussagen der Prozessteilnehmer.


2