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Prof. Dr. Matthias Schmidt Kräfte, Symmetrien und Münchhausens Zopf

Die Erzählung des Baron von Münchhausen, er habe sich an den Haaren aus dem Sumpf gezogen, lässt sich mit bekannten Naturgesetzen rasch als Lügenmärchen entlarven. Eine neue, umfassendere Widerlegung ist Matthias Schmidt und Sophie Hermann von der Universität Bayreuth in „Communications Physics“ gelungen.

Von: Andrea Roth

Stand: 23.01.2023

Prof. Dr. Matthias Schmidt, Inhaber des Lehrstuhls für Theoretische Physik II an der Universität Bayreuth, und Sophie Hermann M.Sc., Doktorandin und wissenschaftliche Mitarbeiterin, haben nun erstmals das Noether-Theorem auf die Statistische Mechanik angewendet. Dabei haben sie das physikalische System der Welt mathematisch aus den Angeln gehoben und an beliebige andere Orte versetzt.

Das Noether-Theorem

Das nach der deutschen Mathematikerin Emmy Noether (1882-1935) benannte Theorem bildet einen Grundpfeiler der Physik. Es ermöglicht eine klare und elegante Beschreibung physikalischer Systeme, von der klassischen Mechanik bis zur Hochenergiephysik. Bisher wurde das Noether-Theorem in der Physik auf die Zeitentwicklung von Systemen angewendet, in denen die raumzeitlichen Positionen von Objekten sowie ihre Kräfte und Bewegungen eindeutig bestimmbar sind. Doch wenn die Objekte sehr klein sind, wie beispielsweise Moleküle, Edelgasatome oder auch größere sogenannte kolloidale Teilchen, können sie statistisch auf der Basis von Wahrscheinlichkeiten treffender beschrieben werden.

Die Statistische Mechanik

Die statistische Mechanik ist eine etablierte physikalische Disziplin, die genau solche Beschreibungen ungeordneter Welten entwickelt. Mir ihren Verfahren kann man berechnen, wie sich aus dem Zusammenspiel von winzigen Teilchen, ihren Kräften und Bewegungen größere Strukturen und Prozesse ergeben, die für das menschliche Auge sichtbar sind.

Wie funktioniert es, das Noether-Theorem auf die Statistische Mechanik anzuwenden?

Dafür bedurfte es eines sogenannten Funktionals, das als Scharnier zwischen der eindeutig determinierten Welt des Noether-Theorems und der ungeordneten, statistisch beschreibbaren Welt der Teilchen fungiert. Als Grundlage eines solchen Scharniers wählten die Bayreuther Physiker einen hochdimensionalen Raum, der prinzipiell das gesamte physikalische System der Welt enthält – mit allen Teilchen sowie allen ihren raumzeitlichen Positionen, Kräften und Bewegungen. Nun kann das Funktional die Anwendbarkeit des Noether-Theorems aber nur ermöglichen, wenn eine entscheidende Bedingung erfüllt ist: Es muss so definiert sein, dass das physikalische System der Welt seine räumliche Position darin ändern kann – indem es gedreht oder verschoben wird. Genau dies ist den Bayreuther Physikern gelungen: Durch mathematische Operationen haben sie die existierende Welt in dem Raum, der die Brücke von dem Noether-Theorem zur statistischen Mechanik bildet, auf unterschiedliche Weisen neu platziert. Die Welt wurde buchstäblich ver-rückt.

Prof. Dr. Matthias Schmidt

Durch die Anwendungen des Noether-Theorems auf Fragen der statistischen Mechanik sind die Bayreuther Physiker zu neuen Erkenntnissen und konkreten Aussagen gelangt, die für unsere real existierende Welt gelten. Wie sich herausstellte, bleiben grundlegende physikalische Regeln gültig, wo immer sich die Welt befindet.

Fazit: Münchhausen ist in jeder „ver-rückten“ Welt ein Lügenbaron.

Vita

  • 1989-1994 Studium der Physik, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, Deutschland
  • Diplomarbeit bei Alfred Hüller, Diplom 2/1994
  • 1994-1995 Zusatzstudium, Ludwig-Maximilians-Universität München bei Hartmut Löwen
  • 1995-1996 Weiterführendes Studium, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf (HHUD)
  • Dr. rer. Nat. 12/1996, summa cum laude
  • Beste Doktorarbeit 1997 an der HHUD
  • 1997 Softwareentwickler, Siemens AG, Nürnberg, Netzleittechnik 1998 Postdoktorand, HHUD
  • 1999-2004 Wissenschaftlicher Assistent (C1), HHUD
  • 2001 (Herbst) Postdoc bei Alan R. Denton, North Dakota State University
  • 2003-2004 Postdoc bei Marjolein Dijkstra, Soft Condensed Matter Group, Universität Utrecht, Niederlande
  • 12/2004 Hochschuldozent (C2), HHUD
  • 1/2005 Habilitation in Theoretischer Physik, HHUD
  • Privatdozent
  • 8/2005 Dozent, Arbeitsgruppe Theoretische Physik, University of Bristol, Vereinigtes Königreich
  • 8/2007 Senior Lecturer, University of Bristol
  • 2008 Beförderung zum Professor, University of Bristol
  • 7/2008 Professor (Lehrstuhl, W3), Theoretische Physik II, Universität Bayreuth, Deutschland, gefördert durch die Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung, im Rahmen des Programms Rückkehr deutscher Wissenschaftler aus dem Ausland, verwaltet von der German Scholars Organization (GSO)


10/2015 Universitätspreis für hervorragende Lehre der Universität Bayreuth
10/2016 Preis für gute Lehre 2015 des Staatsministers für Bildung, Kultus, Wissenschaft und Kunst des Freistaates Bayern


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