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Lesen statt Strafe Lektüreprojekt „KonTEXT“ von Studenten für jugendliche Straftäter

Als Alternative zu Sozialarbeit oder Geldstrafen bietet das Projekt KonTEXT jugendlichen Straftätern Lektüre unter pädagogischer Begleitung an. Die Erfolge sind verblüffend. Campus Magazin stellt das Projekt vor.

Stand: 08.06.2016

Kann Lesen helfen? Was für leidenschaftliche Leser selbstverständlich ist, muss nicht unbedingt für jugendliche Straftäter gelten, die kaum ein Buch kennen. Und dennoch hat das Leseprojekt bei ihnen einen unerwarteten Erfolg. Die Texte thematisieren ihre Probleme und helfen ihnen so ihre Situation besser zu verarbeiten.

Bei KonTEXT arbeiten Studierende ehrenamtlich

"KonTEXT" ist ein studentisches Projekt der Hochschule München in Kooperation mit der Staatsanwaltschaft und dem Jugendamt der Landeshauptstadt. Es bietet jugendlichen Straftäter eine Alternative zu gemeinnütziger Arbeit oder einer Geldstrafe. Die "Strafe" kann deshalb auch darin bestehen, dass sie - sozialpädagogisch begleitet - ein Buch lesen und sich damit auseinandersetzen müssen. Durch die Beschäftigung mit geeigneten Jugendromanen sollen sie Denkanstöße bekommen. Die Persönlichkeitsbildung von straffälligen und gefährdeten Jugendlichen soll auf diese Weise gefördert werden, das erhoffen sich die Organisatoren. Die Jugendgerichtshilfe spricht von einem "dramatischen Effekt" im positiven Sinne.

Lesen im Jugendarrest

Sie sind jung, manche gerade erst 14 Jahre alt, und machen sich bereits auf den Weg zur Hochschule München. Manche kommen freiwillig, andere weil sie von einem Jugendgericht zur Teilnahme an dem Leseprojekt verpflichtet wurden. Zumeist sind es kleinere Diebstähle, die den Anlass für die gerichtliche Anordnung geben, aber auch Schulschwänzen, Beleidigungen bis hin zu Körperverletzungen sind Gründe für den Jugendarrest. Nicht selten verbergen sich hinter den Straftaten ernsthafte persönliche Probleme, angefangen bei Spannungen in der Familie über Schulschwierigkeiten bis hin zu sexuellen Missbrauchs- und Gewalterfahrungen. 

"Ich fand gut, dass man nicht abgestempelt wird und die Mentoren Interesse an mir hatten."

Straffällige, Alter 19 Jahre

Hussein hat an KonTEXT teilgenommen

Hussein geht weiterhin zur Nachbetreuung zu den KonTEXT-Besprechungen. Er will jetzt seinen Schulabschluss schaffen und dann eine Ausbildung beginnen. Durch diese Unterstützung hat er die Motivation gefunden, sein Leben zu ändern und aus seinem Potential etwas zu machen.

Hussein ist 16 Jahre alt

Er hat sich während seiner zweiwöchigen Haft im Jugendarrest freiwillig zum Leseprojekt gemeldet. Er wollte etwas Neues kennenlernen. Davor hatte er noch nie ein Buch gelesen. Der Lesekurs hat Hussein geholfen, über seine Vergangenheit zu sprechen, über seine Taten, über sich nachzudenken und eine neue Perspektive für sein Leben zu bekommen. Er hat sich stolz gefühlt, ein ganzes Buch gelesen zu haben. Dazu hat er Unterstützung durch die Studierenden bekommen, die mit ihm auch über seine eigenen Erlebnisse gesprochen haben, ihm zugehört haben, ihn reflektieren ließen. Sie haben ihm geholfen seine eigenen Talente zu entdecken. Als Abschlussarbeit des Projekts hat Hussein eine eigene Geschichte als Comic gezeichnet. 

"Also ich hab mich stolz gefühlt. Ich dachte immer Wow, ich hab heute was geleistet, was gemeistert. Man fühlt sich eigentlich schon gut dabei, hab mich gefreut, das gemacht zu haben."

Hussein

KonTEXT ist ein studentisches Projekt

Die Studierenden des Bachelorstudienganges Soziale Arbeit an der Hochschule München entwickelten unter Anleitung ihrer Professorin Caroline Steindorff-Classendas das Konzept des Projekts. Neben der Begleitung von Jugendlichen bei der Erfüllung gerichtlich angeordneter Lesemaßnahmen sieht es auch Durchführung von Lesegruppen in der Jugendarrestanstalt München vor. Seit 2011 bietet das Team von KonTEXT die Lesegruppen in der Jugendarrestanstalt regelmäßig an. Ein ähnliches Projekt des Jugendamtes Dresden diente als Inspiration.

Nadine Jene, Studentin für Lernbehindertenpädagogik im 6. Semester an der Universität München.

Sie arbeitet ehrenamtlich bei KonTEXT und besucht Jugendliche im Arrest im Gefängnis in München und liest mit ihnen. Nadine liegt es sehr am Herzen, das Vertrauen der Jugendlichen in die eigenen Fähigkeiten zu stärken, ihre Fantasie und Kreativität anzuregen. Ihr schönster Dank ist, wenn sie erlebt, wie ein Jugendlicher durch ihre Begleitung die Motivation zur Veränderung bekommt. Bei Hussein hat das geklappt.

Die Studierenden arbeiten in Zweier-Teams

Jeweils zwei Studierende gestalteten die gemeinsamen Lesestunden und wollen so einerseits Abwechslung in den eintönigen Haftalltag der Jugendlichen bringen. Andererseits bemühen sich die Studierenden darum, den Jugendlichen durch die gemeinsame Arbeit mit geeigneten Texten, insbesondere Jugendbüchern, Freude am Lesen zu vermitteln und sie zum Nachdenken und Diskutieren über die gelesenen Inhalte anzuregen. Dabei kommen verschiedene, zum Teil auch kreative Methoden zum Einsatz, um die Teilnehmer zum Mitmachen zu motivieren.

KonTEXT gibt es auch außerhalb der Jugendarrestanstalt

Seit dem Sommersemester 2012 übernimmt das KonTEXT-Team auch die Begleitung von gerichtlich angeordneten Lesemaßnahmen außerhalb der Jugendarrestanstalt. Dazu werden Leseprojekte von den Jugendgerichten in München und in Fürstenfeldbruck als neue pädagogische Maßnahme im Rahmen eines Modellversuches erprobt. Die gerichtlich angeordneten "Leseweisungen" sind als Alternative zu den herkömmlichen Arbeits- bzw. Sozialstunden gedacht, deren praktische Durchführung zuweilen Zweifel an ihrem pädagogischen Wert aufkommen ließen.

"Es hat mir geholfen, besser damit umzugehen und auch einzusehen, dass es falsch war. Ich fand das eine gute Idee und auch für andere Jugendliche ist es sinnvoller als Sozialstunden."

Straffällige, Alter: 15 Jahre

Im Unterschied zu den Sozialstunden bewegen die Lesestunden die Jugendlichen dazu, mit dem "Kopf" zu arbeiten. Sie trainieren ihre oftmals schwachen Lesekompetenzen mit Unterstützung von Studierenden und üben, sich mit Texten gedanklich auseinandersetzen. Sie werden dazu angeregt, Bezüge zwischen den gelesenen Texten und ihrer eigenen Lebenssituation herzustellen. Im Idealfall entdecken sie neue Wege der Problembewältigung für sich selbst.

Die Auswahl der Texte erfolgt in einem ausführlichen Erstgespräch

Dabei werden die gerichtlichen Empfehlungen, individuelle Interessen und Problemlagen, aber auch die Lesekompetenzen der jeweiligen Jugendlichen miteinbezogen. Mehr als 120 Jugend- und andere geeignete Bücher stehen inzwischen zur Wahl. Während der Lektürephase werden die Jugendlichen von einem studentischen Mentor oder einer Mentorin einzeln betreut. Die Lesetreffen dauern bis zu sechs Stunden. Dabei diskutieren die Jugendlichen mit ihren Mentoren über die gelesenen Bücher und die Parallelen oder Unterschiede zwischen den beschriebenen Inhalten und ihrer eigenen Situation. Häufig kommt es dabei zu sehr intensiven und vertrauensvollen Gesprächen über die Probleme der Jugendlichen. Am Ende der Lektürephase verarbeiten die Jugendlichen die Lektüreinhalte dann kreativ: Manche Teilnehmer entscheiden sich für eine selbst verfasste Kurzgeschichte, in der sie Motive aus dem gelesenen Buch mit Elementen ihrer eigenen Lebensgeschichte verknüpfen. Andere nutzen die Kreativangebote und gestalten in Gruppen neue Buchcover oder verarbeiten Buchinhalte zu einem Comic oder Rap.

Ehemalige Teilnehmer schätzen das Projekt

"Man konnte über alles reden und tolle Bücher lesen, wobei ich sagen muss, dass ich nie gelesen habe, aber jetzt hab ich mir sogar ein eigenes Buch gekauft."

Straffälliger, Alter: 17 Jahre

1500 Jugendliche konnten seit 2011 im Rahmen von solchen Leseprojekten betreut werden. Seit Beginn des Projekts wurden mehr als 40 Lesegruppen in der Jugendarrestanstalt München durchgeführt. Sowohl die begleiteten Leseweisungen als auch die Lesegruppen in der Jugendarrestanstalt wurden von den Teilnehmern bislang fast ausnahmslos positiv bewertet, obwohl die Jugendlichen überwiegend bildungsfernen Milieus angehören und sich in ihrer Freizeit normalerweise nicht mit Büchern beschäftigen. Das hindert sie jedoch ganz überwiegend nicht daran, in den Gruppen bzw. bei den Einzelmaßnahmen engagiert mitzuarbeiten, trotz aller psychischen Probleme, sozialen Schwierigkeiten und traumatischen Erfahrungen, die sie teilweise bereits in jungen Jahren machen mussten.

Mit Beginn der Flüchtlingskrise 2015 begann das KonTEXT-Team auch Angebote für junge Flüchtlinge zu entwickeln, die mit dem Gesetz in Konflikt geraten sind. Dabei wird großer Wert darauf gelegt, dass den Studenten die Betreuung von komplexeren Fällen erst nach eingehenden Erfahrungen im Umgang mit der Zielgruppe des Projekts überlassen wird.

KonTEXT finanziert sich durch Spenden: 

Um das Projekt erfolgreich fortführen zu können, ist es auf Spenden dringend angewiesen. Die Spenden fließen in die Anschaffung von Büchern und sonstige Materialien, die für die Arbeit mit den Jugendlichen benötigt werden, auch in die Fortbildung der Studierenden, die sich bei dem Projekt engagieren. 

Link zum Projekt:


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