BR Fernsehen - Sehen statt Hören


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Auch heute noch? Der Verein ist meine Heimat

Besonders bei älteren Gehörlosen löst "ihr Verein" eine heimatliche Verbundenheit und eine enge emotionale Bindung aus. Hier war und ist der Raum, in dem sie sich mit Gleichgesinnten treffen, Informationen austauschen und ungehindert in Gebärdensprache kommunizieren konnten. Aber gilt dieser Satz "Der Verein ist meine Heimat" heute noch?

Stand: 15.09.2020

Ist der Verein als geschützter Ort für unsere Sprache, Kultur und unser Leben vielleicht so existenziell, dass ohne den Verein die Gehörlosenkultur bedroht wäre? Die Deutsche Gebärdensprache ist anerkannt, es braucht keine festen "Räume" mehr, um sich zu treffen und miteinander zu plaudern. Vieles verlagert sich auch ins Digitale, in neue Räume und soziale Medien. Gehört der Verein noch zum wesentlichen Bestandteil der Gehörlosenkultur? Oder ist die Zusammenkunft und das Leben der Gehörlosenkultur in Gehörlosenzentren nur noch etwas für die Alten?
Diesen Fragen gehen "Sehen statt Hören"-Moderatorin Anke Klingemann und Ace Mahbaz anlässlich des Internationalen Tags der Gebärdensprachen am 27. September nach.

Extrakasten: Zahlen und Fakten

In Deutschland gibt es über 600.000 Vereine. Jeder zweite Deutsche ist in mindestens einem Verein organisiert. Wie viel Prozent aller Gehörlosen in Gehörlosenvereinen organisiert sind, darüber gibt es keine Statistiken. Doch die Vermutung ist die, dass es sich ähnlich verhält, bzw. es vielleicht sogar noch mehr sind. Während der Landesverband Bayern in letzter Zeit seine Mitgliederzahlen halten konnte, hat sich beim Deutschen Gehörlosen-Bund die Zahl der Mitglieder von 2018 auf 2019 um 4.000 verringert. Das sind 14 Prozent.
Quelle: Deutscher Gehörlosen-Bund

Corona als Herausforderung

Nicht erst seit der Corona-Pandemie leiden Vereine unter finanziellen Herausforderungen, Mitgliederschwund und Überalterung. Die Krise hat die Probleme weiter verstärkt. Gerade Gehörlosenvereine leiden darunter, dass gemeinsame Veranstaltungen und Begegnungen im Clubheim bis heute so gut wie unmöglich sind. Anke Klingemann besucht den Gehörlosenverband München und Umland (GMU)- einer der größten Gehörlosenvereine in Deutschland. Damit sind auch große Herausforderungen verbunden. Und im Moment ist neben Corona auch noch eine dringend notwendige Sanierung des Zentrums in München eine große Last. Die läuft bereits seit mehr als einem Jahr.

"Wir haben nach wie vor mit den Sanierungen zu tun. Das ist also noch nicht abgeschlossen. Und als auch noch Corona kam, lief alles aus dem Ruder, eine ganz andere Situation. Das bedeutete für uns, dass wir seit März, April keine Einnahmen mehr hatten. Wir wissen nicht, wie wir die Sanierungen bezahlen können, also ganz schwierig. Und mit Corona war der Schwerpunkt unserer Arbeit plötzlich bei den Informationen und bei der politischen Aufklärungsarbeit. Da mussten wir enorm viel leisten."

Cornelia von Pappenheim, Geschäftsführerin GMU

Die Treue der Mitglieder ist also derzeit wichtiger denn je. Doch die Zeit, in der  offenbar jeder den Verein brauchte, scheint vorbei. Oder etwa nicht?

"Denjenigen, die sagen: 'Wofür brauchen wir noch den Verein?' möchte ich gerne Folgendes sagen: Unser Verein leistet enorm viel politische Arbeit. Besonders auch in der Corona-Zeit haben wir viel Aufklärungsarbeit erbracht. Selbst die Politik oder die Staatsregierung wollte Antworten auf viele Fragen haben. Wenn Gehörlose denken, sie brauchen keinen Verein, dann nehmen wir uns gerne zurück. Ist das dann okay? Ich glaube, Vereine und Verbände sind nach wie vor sehr wichtig."

Cornelia von Pappenheim, Geschäftsführerin beim GMU

Neugestaltung der Vereine

Vielleicht muss der Verein anders gestaltet werden – moderner, attraktiver. Und wahrscheinlich sollte man zweigleisig fahren: Online-Angebote und Medien auf der einen Seite und andererseits die persönlichen Begegnungen. Denn: Die Mitglieder werden immer älter. Überall in Deutschland.

Junge Leute auf anderen Plattformen

Doch die jungen Leute sind gar nicht weg. Es gibt sie. Nur woanders. Sie treffen sich beispielsweise über das Internet. Ace nimmt Kontakt auf zu einer Sportinitiative in Instagram.

"Ich habe den Eindruck, dass sich die Vereine allgemein in Deutschland in Sachen Programme, Flexibilität, Medien, den sozialen modernen Medien nicht anpassen. Das fehlt. […] Die Sport-Initiative soll auch für alle sein, von klein bis groß. Die Vereine sind typischerweise sehr starr, fest in ihren Statuten; dieses und jenes geht nicht. Das ist nicht attraktiv. Dann versucht man neue Ideen zu liefern, was die Vereine eigentlich freuen sollte, dass man sie unterstützt, sich binden möchte, aber das wollen die Vereine scheinbar nicht."

Ludwig, Instagram Sportinitiative und Initiator vom ViFest

Trotzdem ist die Jugend noch geprägt von den Kindheitserfahrungen im Gehörlosenverein. Und nicht selten werden aus diesen Kindern auch sehr aktive Mitglieder der Gehörlosen-Community. So wie Benjamin. Er ist engagiert im DEGETH-Festival. Doch reicht das ehrenamtliche Engagement noch für die Zukunft aus?

"Im Bereich Sport läuft alles locker und ist kein Problem, genauso wie in Vereinen wie bei BÄMM oder der Elternvereinigung. Bei den Verbänden ist es schwieriger. Sie brauchen sowohl die Hauptamtlichen als auch Ehrenamtliche, die Spaß an der Sache haben. […]"

Benjamin

In Deutschland gibt es viele regionale Jugendorganisationen, die bei der Dachorganisation DGJ, der Deutschen Gehörlosen-Jugend, angeschlossen sind. Wie geht es dem DGJ heute?

"Die DGJ hatte da eigentlich keine Probleme. Die Jugendfestivals waren immer voll und gut besucht. Auch der Deaf Youth Way, das Jugend-Camp waren immer voll. Es gab sogar Wartelisten. Das Problem ist eher lokal. Die Mitgliederzahlen werden weniger, weil die Angebote in den Regionen weniger werden. Teilweise werden die Organisationen stillgelegt oder es gibt keine. Keine Ahnung warum. Vielleicht ist es zu viel Büroarbeit und zu viel Arbeit für die Projektanträge."

Antonia Ricke ehemalige Vorsitzende DGJ

Beispiel Schweiz

Es gibt grundsätzlich ein Problem mit der ehrenamtlichen Arbeit. Zumindest in Deutschland. In unserem Nachbarland – in der Schweiz mit ihren 10.000 Gehörlosen – sieht das ganz anders aus.

"[…](Es braucht) eine Markenentwicklung. Was bedeutet das? Wir haben uns gefragt, ob die Schweizer Gesellschaft den SGB kennt. Dazu haben wir eine Untersuchung gemacht. Die Analyse hat gezeigt, dass nur 0,8 Prozent der Befragten den SGB kannten. Das ist ein sehr kleiner Anteil. Und das, obwohl unser Verband schon über 70 Jahre existierte. Trotzdem kannte die Gesellschaft nicht unseren Verband, unsere Gehörlosenkultur und unsere Gebärdensprache. Also mussten wir eine Kampagne starten und Öffentlichkeitsarbeit machen."

Dr. Tatjana Binggeli, Präsidentin des Schweizerischen Gehörlosenbundes (SGB)

Mit einer guten Kampagne wurde die Solidarität unter den Gehörlosen enorm gesteigert – und zudem die Wahrnehmung in der schweizerischen Gesellschaft gestärkt. Mittlerweile gibt es 50 hauptamtliche Mitarbeiter im Dachverband. Ein Erfolgsrezept.

Das Fazit

In den letzten Jahren gab es eine rasante Entwicklung. Vieles ist moderner geworden und es gibt genügend Angebote außerhalb des Vereins. Der Verein kann also nicht stehenbleiben, sondern muss sich verändern und überlegen, wie er sich den neuen Gegebenheiten anpasst. Doch eines scheint ganz wichtig: dieses Heimatgefühl, was mit der Gebärdensprache, der Kultur, den Zusammenkünften und der Gemeinschaft verbunden ist, das ist nach wie vor da. Und somit ein wichtiger Teil der Gehörlosengemeinschaft.


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