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Hartes Lager, heiße Herzen 100 Jahre Tölzer Richtlinien oder: Wolldecken und Duschen

Braucht es Duschen auf der Hütte? Wolldecken oder Federbetten? Vor 100 Jahren hat der damalige Deutsche und Österreichische Alpenverein auf der Hauptversammlung in Bad Tölz 1923 die „Tölzer Richtlinien“ beschlossen: Regeln für die Einfachheit auf den Berghütten.

Von: Georg Bayerle

Stand: 27.05.2023

In der Sektion Bad Tölz hatte es Diskussionen gegeben um die Renovierung der Tölzer Hütte in den vergangenen Jahren. Denn das Salettl, ein wintergartenähnlicher Anbau, wurde vergrößert, auch die Küche. Jetzt zeigt sich bei einem Rundgang, wie genau der neue Hüttenwirt Benno Schödel und der Tölzer Hüttenwart Max Nichtl auf die Details achten: Die Einrichtung ist gemütlich, aber einfach. Stühle, Tische und Bänke sind vom örtlichen Schreiner aus heimischem Holz angefertigt. In den Waschräumen gibt es nur kaltes Wasser, die Kästen mit Papierhandtüchern wurden abgebaut, weil sie als Restmüll entsorgt werden müssten.

Naturbad im See statt heißer Dusche

Es sind Kleinigkeiten, aber sie summieren sich - und genau in diese Richtung muss es gehen, sagt Robert Kolbitsch, Leiter des Hüttenteams des DAV. Vergangenes Jahr musste mit der Neuen Prager Hütte erstmals ein Haus wegen Wassermangels zusperren. Der Wassermangel ist das gravierendste Problem für viele Berghütten, Duschen passen da nicht dazu. Deshalb sind sie bei der Grundsanierung der Kemptener Hütte jetzt gleich ganz abgebaut worden. Der DAV hat die Forschung im Bereich der Trockentoiletten ausgebaut. Durch ein reduziertes Angebot sollen Ressourcen so gut wie möglich gespart werden.

Die neue, durch die Klimaveränderung erzwungene Einfachheit auf Berghütten hat eine lange Vorgeschichte: 1923 wurden die Tölzer Richtlinien beschlossen und mit ihnen ein Komfortverzicht:

"Federbetten sind allmählich durch Wolldecken zu ersetzen. Ab 10 Uhr abends hat auf den Hütten unbedingte Ruhe zu herrschen. Die Verpflegung auf den bewirtschafteten Hütten ist auf das einfachste Maß zurückzuführen und auf die Bedürfnisse der Bergsteiger einzustellen. Die Bergsteiger sind berechtigt, ohne jede Zurücksetzung in der Aufnahme und Behandlung ihre eigenen Vorräte gebührenfrei zu verzehren. Für Hüttenpächter ist der Pachtschilling so zu bemessen, dass diesen Forderungen der Einfachheit Rechnung getragen werden kann."

Einige der Leitlinien.

Den „Massenbesuch“ bremsen

Hintergrund war damals der bis dahin ungekannte Berg-Boom: Mit dem Wirtschaftswachstum und dem Eisenbahnbau Ende des 19. Jahrhunderts hatte sich ein regelrechter Run auf die Berge entwickelt. Da er anfangs vor allem von wohlhabenderen Schichten getragen wurde, exportierte das Bürgertum den Lebensstil der Belle Epoque gleich mit. Vor 100 Jahren erreicht die Debatte einen ersten Höhepunkt, und da stand dann zum ersten Mal die Frage im Raum, ob sich die Gesellschaft die Berge nach ihrem Stil zurichten kann, soll oder darf, oder ob nicht umgekehrt der alpine Raum die Stilistik definieren sollte, die dann freilich karg, einfach und minimalistisch wäre.

„Merksprüche des Bergsteigers“

Gemütlich beisammen sitzen gehört auf der Hütte dazu.

Schon in den Jahren zuvor sind beispielsweise die „Zehn Merksprüche des Bergsteigers“ erschienen: „Du sollst auf der Wanderung deine Erziehung und Bildung nicht von dir tun. Unart und Roheit sind nicht dasselbe wie Freudigkeit und Kraft. Du sollst die Hütte nicht zur Kneipe herabwürdigen. Alkohol ist der übelste Wandergefährte, die Hütten aber sind zur Erholung der Bergsteiger da und die Nacht zum Schlafen.“

Zum Schauplatz der heißblütigen Debatte wurde schließlich Bad Tölz. Das Kurstädtchen im Süden von München war 1923 Austragungsort der Hauptversammlung, mitten in einem Berge-Boom bis dahin ungekannten Ausmaßes: Von 1920 bis 1925 verdoppelte sich die Zahl der Hüttenbesucher nahezu. 1924 wurde knapp eine halbe Million Besucher gezählt. Und darunter waren nicht nur die so genannten ‚Halbschuh-Touristen‘, sondern genauso feierlustige Gruppen jeden Geschlechts; Menschen, die den Alltag für eine Weile hinter sich lassen wollten.

Die „wahren“ Bergsteiger

Einen Ansturm auf die Berge gibt's nicht erst seit Kurzem ...

1923 stand ein elitärer Anspruch des Bergsteigers hinter den Tölzer Richtlinien. Die bunte Schar der Salontiroler, Jochbummler und Berglümmel, wie die zeitgenössischen Bezeichnungen waren, sollte von den alpinen Hütten wegbleiben: „Den Mitgliedern, die Bergbesteigungen ausführen, ist vor anderen Hüttenbesuchern unbedingt der Vorrang einzuräumen. Für Sommerfrischler und Personen, die mit dem ausübenden Bergsteigertum nichts zu tun haben, sind die Hütten nicht bestimmt. Sie sind von ihnen tunlichst fernzuhalten. Insbesondere sind Filmgesellschaften von der Benützung der Hütten ausgeschlossen.“

In der Geschichte des Deutschen und Österreichischen Alpenvereins markieren die Tölzer Richtlinien einen Wendepunkt: Mit ihnen gilt die Zeit der Erschließung der Alpen nun als angeschlossen. 1927 nimmt der Alpenverein den Naturschutz in seine Satzung auf. Die damaligen Grundgedanken haben die touristische Entwicklung des Alpenvereins maßgeblich bestimmt, sagt DAV-Präsident Roland Stierle.

Die Hüttenruhe gilt bis heute

Manche Hütten sind echte Urgesteine

Einige Regeln der Tölzer Richtlinien wie die Hüttenruhe gelten bis heute. Und genauso leidenschaftlich wie in den 1920er-Jahren spielen sich auch heute Diskussionen um Duschen und Federbetten ab. Mit dem Grundgedanken der Einfachheit haben die Tölzer Richtlinien so eine neue Aktualität unter den Vorzeichen von Wetterextremen, Trockenheit und Energiekrise bekommen. Die Alpenvereinshütten könnten sogar zum Modell für einen besonders ressourcenschonenden Lebensstil werden.

Info

„Harte Lager, heiße Herzen“, so heißt das Feature von Georg Bayerle, das Bayern2 am Pfingstmontag ausstrahlt: um 11:05 und um 18:05 Uhr. Einen Beitrag dazu zum Lesen gibt es im aktuellen Alpenvereinsjahrbuch Berg 2023.


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