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Zug um Zug zur MEZ Wie es sich begab, dass ganz Bayern in derselben Zeitzone liegt

Zugfahrplänen haftet ja eher selten etwas Revolutionäres an. Doch als die Eisenbahn Hightech war, konnten sie wahre Wunder wirken. Zum Beispiel, dass in Bamberg und Passau gleichzeitig 12 Uhr mittags ist.

Von: Tobias Föhrenbach

Stand: 31.12.2022 | Archiv

"Da man in neuerer Zeit wahrgenommen hat, dass Ominbus und Fiaker öfters erst nach der vorgeschriebenen Zeit ankommen, und dadurch die rechtzeitige Abfahrt verhindern, so wird auf die obige bestehende Vorschrift mit dem Bemerken aufmerksam gemacht, dass zu spät Kommende es sich selbst zuzuschreiben haben, wenn sie von der betreffenden Fahrt ausgeschlossen werden."

Bekanntmachung der königlichen Eisenbahnbaukomission München vom 9. Oktober 1844, 'Die richtige Einhaltung der Fahrzeiten betr.'

Was sagt man dazu! Die Eisenbahn beschwert sich über zu spät kommende Passagiere, weil das die pünktliche Abfahrt der Züge verhindert?! So rum, auch mal schön. Da fragt man sich als Fahrgast im beginnenden 21. Jahrhundert: Fühlt sich die Deutsche Bahn die ganze Zeit so?

Um zu verstehen, welches Verhältnis zur Zeit die Menschen dieser Zeit hatten, müssen wir noch ein paar Jahre weiter zurückgehen, ins beginnende 19. Jahrhundert, als das Leben noch viel stärker vom Takt der Natur bestimmt wurde.

"In der Zeit vor der Eisenbahn wurde sehr wenig gereist, weil es wenig Verkehrsmittel gab. Man war sehr ortsgebunden, deshalb spielte die Zeit eine ziemlich untergeordnete Rolle."

Ursula Bartelsheim, Kuratorin Deutsche Bahn-Museum Nürnberg

Ursula Bartelsheim, die Kuratorin beim Deutsche Bahn-Museum in Nürnberg, nimmt uns mit auf eine Reisezeit-Zeitreise. Beim Reisen ging es zunächst eher gemächlich voran mit Kutsche, zu Pferd oder zu Fuß. So kam es bei größeren Entfernungen auch nicht auf die genaue Ankunftszeit an. Minuten spielten keine Rolle, eher die groben Tageszeiten.

Einstiegshalle Münchner Hauptbahnhof 1882

Und sowieso war die Zeit relativ. Denn jeder Ort hatte seine eigene Zeit, die sich am Sonnenstand orientierte. Stand die Sonne zum Beispiel um 12.00 Uhr hoch am Himmel in Würzburg, dann war sie in München in diesem Augenblick schon über ihrem Zenit und in Karlsruhe kurz davor. Deshalb war in allen drei Städten zu einem anderen Zeitpunkt 12.00 Uhr. Dass die Uhrzeiten in verschiedenen Orten voneinander abwichen, war für die Leute aber kein Problem. Noch nicht. Bis 1835, dem Jahr der ersten deutschen Eisenbahn.

"Das Zeitempfinden und das Problem der Zeitmessung haben sich mit der Einführung der Eisenbahn radikal verändert. Weil die Eisenbahn für Ihren Betrieb einen Fahrplan benötigte, war es wichtig, genaue Zeiten festzulegen, wann Züge ankommen und abfahren, weil auf der Schiene ja nicht überholt werden konnte."

Ursula Bartelsheim, Kuratorin Deutsche Bahn-Museum Nürnberg

Münchner Hauptbahnhof ca. 1860

Für verbindliche Zeiten wurde es höchste Eisenbahn. Denn das Schienennetz entwickelte sich rasant. Nachdem 1835 zwischen Nürnberg und Fürth die ersten sechs Kilometer Eisenbahn fertiggestellt worden waren, waren fünf Jahre später schon 500 Streckenkilometer im Deutschen Reich verlegt. Weitere zehn Jahre später 5.000 und 1880 ganze 34.000 Kilometer.

Eisenbahnkarte 1849

Doch eins nach dem anderen. Um den Fahrgästen eine Orientierung über die Fahrdauer zu bieten, wurden Entfernungen erst einmal in Gehstunden angegeben und dann umgerechnet in Fahrtstunden.

Von Nürnberg bis Forchheim: 8 Gehstunden, das ist 1 Fahrtstunde
Von Nürnberg bis Bamberg: 15 Gehstunden, das sind etwa zwei Fahrtstunden
Von Nürnberg bis Kulmbach: 32 Gehstunden, das sind vier Fahrtstunden
Von Nürnberg bis Hof: 51 Gehstunden, äh, das sind …
Von Nürnberg bis Plauen: 61 Gehstunden … hat jemand einen Rechenschieber?

Ohne Mathediplom keine Zugfahrt. Und das galt auch für die jeweiligen Abfahrtszeiten. Denn woran sollte man sich orientieren, wenn jede angebundene Stadt ihre eigene Ortszeit hatte? Das einzige, was da sicher war, war das Chaos. Die Leute verpassten Züge, standen viel zu früh am Bahngleis oder wussten nicht mehr, wann ein Zug wo ankommen sollte. Die Zuggesellschaften versuchten, dem wilden Eisenbahnwesten irgendwie Herr zu werden.

"Das war am Anfang so, dass die Eisenbahngesellschaften dann immer die Ortszeit genommen haben, an der sie ihren Sitz hatte. Wenn wir München – Augsburg nehmen, dann war der Fahrplan der Münchner Zeit aufgestellt, obwohl es in Augsburg ein paar Minuten früher war."

Ursula Bartelsheim, Kuratorin Deutsche Bahn-Museum Nürnberg

Kursbuch Bayern vom Juni 1891

Man musste also "nur" wissen, welche Ortszeit maßgeblich war, und wie spät es zum selben Zeitpunkt in der eigenen Stadt war. Und dann musste man nur noch die Fahrtzeit berechnen und den Zeitunterschied der eigenen Ortszeit dazurechnen (oder abziehen) und schon wusste man, wann der Zug an welchem Bahnhof ankommen oder abfahren würde. Saß man übrigens in besagtem Zug, dann musste man seine Taschenuhr auf der Reise je nach Ortszeit mehrmals umstellen.

Kein Wunder, das viele nur noch Bahnhof verstanden.

"Das Ganze hat natürlich nur so lange funktioniert, wie es nur einzelne Strecken gab, die betrieben werden mussten. Als das Netz viel größer wurde und man aus allen Richtungen in eine Stadt fahren konnte und ganz andere Strecken zurücklegen konnte, wurde die Fahrplangestaltung mit den unterschiedlichen Ortszeiten ein riesiges Problem. Deshalb sind die Eisenbahngesellschaften Mitte der 1860er-Jahre dazu übergegangen, sogenannte Länderzeiten einzuführen, also erste Zeitzonen."

Ursula Bartelsheim, Kuratorin Deutsche Bahn-Museum Nürnberg

Gute Idee, schwierige Umsetzung. Denn damals gab es fünf Herrschaftsgebiete in Deutschland, die sich alle untereinander nicht wirklich grün waren. Und so wurden dann fünf unterschiedliche Zeitzonen festgelegt, in denen die Zeit der jeweiligen Hauptstadt des Gebietes galt. Bei den Bayerischen Eisenbahnen die Münchner Zeit, bei den Württembergischen die Stuttgarter, bei den Pfälzischen die Ludwigshafener, bei den Badenern die Karlsruher Zeit und für Preußen galt die Berliner Zeit. In Sachen grenzüberschreitende Absprachen war der Zug also abgefahren.

"Rund um die Bodenseeregion trafen fünf Zeitzonen aufeinander. Und wenn man sich da die Fahrtzeiten anschaut, war es folgendermaßen: Wenn es im bayerischen Lindau 11.49 Uhr war, dann war es im württembergischen Friedrichshafen 11.39 Uhr, im badischen Konstanz 11.36 Uhr und in Romanshorn in der Schweiz 11.32. Also es gab da immer noch sehr viele unterschiedliche Zeiten."

Ursula Bartelsheim, Kuratorin Deutsche Bahn-Museum Nürnberg

Was also tun? Die Rufe nach einer Eisenbahn-Einheitszeit wurden lauter. Und die Debatten darüber ebenfalls.

"Dem Gebiet der grauen Theorie gehöre es an, wenn die Eisenbahnpraxis glaube, das ganze bürgerliche Leben Deutschlands auf die Dauer in dieselbe Uniformierung der Zeitangabe zwingen zu können."

Wilhelm Julius Förster, Astronom und Direktor der Berliner Sternwarte, in einer Gelehrtenschrift von 1880

Der Zug ist zu spät? Nein, die Uhr geht vor! - Karikatur von 1911

"Meine Herren, im praktischen Leben wird sehr selten eine Pünktlichkeit, die mit Minuten rechnet, gefordert. Es ist an vielen Orten üblich, dass die Schuluhr zehn Minuten zurückgestellt wird, damit die Kinder da sind, wenn der Lehrer kommt. Selbst die Gerichtsuhr wird vielfach zurückgestellt, damit die Parteien sich versammeln, bevor das Verfahren beginnt. Umgekehrt, in den Dörfern welche nahe an der Eisenbahn liegen, stellt man in der Regel die Uhr einige Minuten vor, damit die Leute den Zug nicht verpassen. Ja, meine Herren, selbst dies hohe Haus statuiert doch eine akademische Viertelstunde, die auch zuweilen noch etwas länger wird. Ich glaube, dass es diese Verhandlungen erleichtern wird, wenn der Reichstag sich sympathisch ausspricht, welches in Amerika, in England, in Schweden, in Dänemark, in der Schweiz bereits ohne wesentliche Störungen zur Geltung gekommen ist."

Generalfeldmarschall Graf Helmut von Moltke, Reichstagsrede am 16. März 1891

Ein Plädoyer für eine große Reform, wie sie in anderen Ländern bereits angestoßen wurde. Es war der Eisenbahner Sandford Fleming, Chefingenieur der Canadian Railway, der die Lösung präsentiert hatte. Die ganze Welt sollte in übernationale Zeitzonen eingeteilt werden, um sich von der vorherigen, kleinteiligen Zonenaufteilung einzelner Länder zu verabschieden.

"Die ganzen Bestrebungen haben dazu geführt, dass 1884 eine Konferenz in Washington abgehalten wurde, auf der beschlossen wurde, dass die Welt in 24 unterschiedliche Zeitzonen aufgeteilt wird, berechnet nach verschiedenen Längengraden und ausgehend von Greenwich, Großbritannien."

Ursula Bartelsheim, Kuratorin Deutsche Bahn-Museum Nürnberg

Hinweisschild auf den Null-Meridian am Observatorium im Londoner Stadtteil Greenwich

Die Sternwarte Greenwich in London war schon für die Seefahrt ein wichtiger Bezugspunkt. Von hier aus erfolgte die Einteilung der Zeitzonen und glücklicherweise fielen die versammelten Herrschaftsgebiete auf deutschem Boden in den 15. Längengrad und damit dieselbe Zeitzone.

Nach dem internationalen Beschluss gab es zwar noch vereinzeltes Aufbegehren und es dauerte fast zehn Jahre bis zur endgültigen Umsetzung, aber dann kam es auch im Deutschen Reich zur Vereinheitlichung der Zeit per Gesetz.

"Wir Wilhelm, von Gottes Gnaden Deutscher Kaiser, König von Preußen verordnen im Namen des Reichs, was folgt: Die gesetzliche Zeit in Deutschland ist die mittlere Sonnenzeit des fünfzehnten Längengrades östlich von Greenwich."

Reichsgesetzblatt, 12. März 1893

"Wenn man die beiden Extreme nimmt, Berlin und Bonn zum Beispiel: Da herrschte jetzt die gleiche Zeit, vorher war zwischen beiden Städten ein Unterschied von 25 Minuten. Und durch diese einheitliche Zeit konnten endlich auch einheitliche Fahrpläne für ganz Deutschland aufgestellt werden. Die Reisenden mussten nicht mehr umrechnen, man musste seine Uhr nicht mehr umstellen, wenn man von München nach Berlin gefahren ist."

Ursula Bartelsheim, Kuratorin Deutsche Bahn-Museum Nürnberg

Das war die Geburtsstunde dessen, was wir heute Mitteleuropäische Zeit (MEZ) nennen. Nicht nur für die Zugreisenden war das die entscheidende Erleichterung, sondern auch für die immer stärker wachsende Industrie, die anders als das flexible Handwerk für ihre Maschinen und Schichtdienste klare Zeiteinteilungen und Taktungen benötigte. Ebenso profitierten davon das Postwesen und die Schifffahrt.

Die Eisenbahn hat uns also eine einheitliche Zeit beschert. Die Ironie der Geschichte: Nur deshalb können wir genau so leicht feststellen, wie viele Minuten Verspätung unser Zug hat.


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