Bayern 2 - Zeit für Bayern


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Anders leben Alternative Lebensgemeinschaften in Bayern

Wie wollen wir leben? Diese Frage beantworten immer mehr Menschen in Bayern mit: gemeinsam statt einsam. Wohnen in Gemeinschaft boomt, es gibt viele Alternative zum trauten Heim. Was macht diese Lebensgemeinschaften so attraktiv?

Von: Christian Schiele

Stand: 02.06.2016 | Archiv

Die Zahl der gemeinschaftlichen Wohnprojekte in Bayern ist in den vergangenen Jahren stark gestiegen. Das sagen beispielsweise die Experten der Vereine "Forum gemeinschaftliches Wohnen" und "wohnbund" sowie der "Stiftung Trias", die alle das gemeinschaftliche Wohnen fördern. Das zeigen aber auch die führenden Online-Portale www.wohnprojekte-portal.de, das von der "Stiftung Trias" betrieben wird oder dessen Vorbild www.wohnprojektatlas-bayern.de – eine Internetseite, die 2005 eingerichtet wurde und erstmals umfassend Wohnprojekte in einem Bundesland aufgelistet hat.

Die Nachfrage steigt

Genaue Zahlen gibt es zwar nicht, da die Lebensgemeinschaften keine Meldepflicht haben. Doch die Beobachter der Szene sind sich einig: Die neuen Nachbarschaften finden immer mehr Anhänger. Bei Familien, bei Menschen, die mit Alt und Jung zusammenleben wollen und auch bei denen, die nach einer geeigneten Wohnform für das Alter suchen.

Die alternative Wohnszene in Deutschland - Ursprünge und Geschichte

Späte 1960er- und 1970er-Jahre:

Die Gesellschaft befindet sich im Umbruch: Frauen kämpfen für ihre Emanzipation, die Pille ermöglicht persönliche Familienplanung. Die Kleinfamilie hat für die 68er-Bewegung ausgedient. Als Gegenmodell entwickelt sich die Wohngemeinschaft. Sie ist politisch und akademisch geprägt. Kinder werden hier von vielen Erwachsenen erzogen, Kuschelkurs statt Rohrstock ist angesagt. Allzu viele alternative Wohnprojekte gibt es zwar noch nicht. Doch sie ebnen den Weg für das gemeinschaftliche Wohnen in Deutschland.

1980er-Jahre:

In deutschen Großstädten werden Häuser besetzt. Daraus entwickeln sich später teilweise Wohnprojekte. Die meisten Neugründungen in den 80er-Jahren sind aber Eigentums-Projekte. Und es entstehen die ersten "Kommunen" in Deutschland – eine Wohnform mit einer besonders intensiven Gemeinschaft. Daneben gründen sich erste Projekte, die auf spezielle Zielgruppen ausgerichtet sind, zum Beispiel für Frauen und Alleinerziehende. Und die ersten Ökosiedlungen entstehen – geprägt durch das wachsende Bewusstsein für ökologische Zusammenhänge und die Grenzen des Wachstums.

1990er-Jahre:

In diesem Jahrzehnt entwickeln sich Projekte, die sich speziell an ältere Menschen richten, die nicht allein und nicht im Heim leben wollen. Nun entdecken auch die ersten professionellen Wohnungsunternehmen den Markt. Junge, neu gegründete Genossenschaften spielen eine immer größere Rolle. Hausbesetzerprojekte werden legalisiert und zwei neue Trägermodelle entwickelt: das Mietshäuser-Syndikat – es beteiligt sich an Mietshäusern, damit diese nicht weiterverkauft werden können – und die Dachgenossenschaft, die mehrere genossenschaftlich organisierte Wohnprojekte verwaltet.

2000er-Jahre:

In den Markt des gemeinschaftlichen Wohnens kommt Schwung. Zwar fristen alternative Wohnprojekte immer noch ein Nischendasein, doch von 2000 bis 2010 werden fast doppelt so viele Wohnprojekte gegründet wie in den zehn Jahren zuvor. Mehrgenerationenhäuser werden immer beliebter. Die Nachfrage nimmt zu, weil die Mieten immer weiter steigen und der demografische Wandel immer stärker ins Bewusstsein rückt. Nun realisieren zunehmend auch Wohnungsgesellschaften, Investoren und traditionelle Genossenschaften eigene Wohnprojekte – und bieten langfristige Wohnsicherheit zu kalkulierbaren Preisen.

Netzwerken beim Wohnprojekttag in München

Netzwerken beim 10. Wohnprojekttag in München

Das wurde auch beim zehnten Wohnprojekttag im Münchner Gasteig deutlich. Im ersten Stock des Kulturzentrums reihte sich ein Infostand an den nächsten. In der Ausstellung präsentierten sich Mehrgenerationenhäuser, Siedlungsgemeinschaften, Kommunen, Mietshäuser-Syndikate, Stiftungen und Banken. Und das Interesse war so groß wie nie zuvor.

"Die Resonanz diesmal ist wirklich für uns überwältigend. Wird sind ausgebucht und haben viele Nachfragen für die Ausstellung, aber auch für die Vorträge, die wir gar nicht befriedigen konnten. Das heißt, das Thema ist noch mehr bei den Bürgern angekommen."

Doris Knaier, Mitorganisatorin des 10. Wohnprojekttags

Alternativen zum trauten Heim

Die Idee alternativer Lebensgemeinschaften kommt an, bei Jung und Alt. Doch was macht sie so attraktiv? Können neue Wohn-, Haus- und Siedlungsgemeinschaften die Verluste kompensieren, die die Individualisierung unserer Gesellschaft mit sich bringt? Ohne die individuelle Freiheit zu sehr zu beschneiden? Alternativen zum trauten Heim gibt es viele.

Die Hausgemeinschaft Grübelbunker in Nürnberg

Seit 15 Jahren teilen die Bewohner des Nürnberger Grübelbunkers schon ihr Leben.

Eine ist der Grübelbunker. Das Sandsteinhaus in der Nürnberger Innenstadt sieht gar nicht aus wie ein Bunker. An der Fassade erinnert noch ein kleines Schild daran, dass hier ab 1942 Menschen Schutz in ihrer Not gefunden haben. Bis zu 1.000 Menschen bangten im Zweiten Weltkrieg hier um ihr Leben. Heute bietet der ehemalige Bunker acht Senioren ein ganz besonderes Zuhause. In dem barrierefrei umgebauten Haus teilen im Moment vier Paare ihr Leben, sie wollen gemeinsam und selbstbestimmt alt werden – ohne ihre Kinder zu belasten.

"Wir haben bei unseren Müttern gesehen, wie es ist, wenn man alt und einsam wird. Und haben uns sehr früh schon überlegt, es muss doch Alternativen dazu geben, zu dieser Zwangsläufigkeit, dann ins Heim zu gehen. Und da hatten wir eben diese Vorstellung: Man muss doch auch im Alter zusammen wohnen können."

Barbara Stoll, Bewohnerin im Nürnberger Grübelbunker

Das Mehrgenerationenprojekt Marthastraße in Nürnberg

Menschen aller Altersgruppen wohnen in der Nürnberger Marthastraße zusammen.

Ein paar Kilometer entfernt wohnen in der Nürnberger Marthastraße Menschen aller Altersgruppen und unterschiedlichster Herkunft zusammen. Viele von ihnen lernten sich schon vor dem Einzug kennen und diskutierten an zahlreichen Wochenenden, wie sie sich ein Zusammenleben vorstellen.

"Es ist viel Arbeit und es hört nie auf. Ich hab einen Ordner mit abgehefteten Workshops, ich glaub ich hab jetzt 37 oder 38 abgeheftete Wochenenden, an denen wir uns regelmäßig getroffen haben."

Gabriele Poelchau, Bewohnerin im Marthaprojekt in Nürnberg

Die Wohngemeinschaft Rosa Alternative in München

Die Bewohner der "Rosa Alternative" in München wünschen sich hingegen eine Gemeinschaft, die ihren Lebensstil versteht, akzeptiert und fördert – nachdem sie jahrelang dafür gekämpft haben, offen homosexuell leben zu können. Das möchten sie im Alter nicht aufgeben. Dabei haben einige von ihnen lange Zeit gar nicht damit gerechnet, so alt zu werden – weil sie HIV-positiv sind.

"Ich habe damals gedacht, ich werde nicht einmal 50. Darum habe ich meinen 50. Geburtstag auch recht groß und pompös gefeiert. Und nun bin ich 57, ich bin unter der Nachweisbarkeitsgrenze und kann wie jeder andere 80 oder 90 Jahre alt werden."

Rainer, Bewohner der Wohngemeinschaft Rosa Alternative in München

Beratungsstellen in Bayern

Wer gemeinsam planen, bauen und leben möchte, braucht Hilfe. Stiftungen und Beratungsstellen unterstützen dabei, bürokratische Hürden zu überwinden. Das "Forum gemeinschaftliches Wohnen" unterhält zahlreiche Regionalbüros. In München ist der Verein "Urbanes Wohnen" die Anlaufstelle. In Nürnberg ist es der Verein "Der Hof – Wohnprojekte Alt und Jung". Bislang berieten die Mitarbeiter Interessierte rein ehrenamtlich. Doch nun entdecken immer mehr Städte und Kommunen das Thema für sich – und München hat beispielsweise eine in Bayern einzigartige Beratungsstelle geschaffen: die Mitbauzentrale, die gemeinschaftliche Wohnprojekte fördern und beraten soll.


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