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„Canto“ - ein furioser Gesang Paul Nizon, ein Magier deutscher Sprache wird 90

"Vater, nichts Nennenswertes Mir wird zu eng, ich halte das nicht mehr aus. Ich will auf die Welt", schrieb Paul Nizon in seinem ersten Roman. Wild, sprachgewaltig, erruptiv wie ein Vulkan brachen die Sätze aus ihm heraus. Schreiben ist Leben, Schreiben ist Wirklichkeit, Schreiben ist Halt. Als Paul Nizon 1960 als Stipendiat nach Rom kommt, heraus aus der "einengenden" Schweiz, heraus aus Bern, bricht für ihn ein neuer Lebensabschnitt an. Heute lebt der "Magier deutscher Sprache" in Paris und feiert am 19. Dezember seinen 90. Geburtstag. Gespräch und Lesung aus seinen drei wichtigsten Werken.

Von: Eva Demmelhuber

Stand: 10.12.2019

Paul Nizon | Bild: picture-alliance/dpa

"Vater, nichts Nennenswertes Mir wird zu eng, ich halte das nicht mehr aus. Diese Hingabe an etwas, das, da und da, eben war und versirrt. Feuriger Anfall und nicht zu fassen noch zu gebrauchen. Feuerlohenringe, und das Hinterher mit Gefühlsscharen und Gedankentrüppchen, Späh- und Kundschaftertrupps, die nichts herbringen, doch unfehlbar verschollen gehn. Und doch ist diese Rom-Welt, kocht sich aus auf mir, nicht zu betreten: ich, ein Atlant? Nein. Auf Urlaub sein? Nein. Kopf und Herz herhalten für etwas, das gewaltig lebt um mich herum und mich millionenfach überdauern wird, unbetreten? Nein. Keine Zeit haben, besetzt sein, um nichts zu tun. Und brauche alle Kraft für mein Aushalten und immer verwirrenderes Auf-der-Lauer-Liegen. Wann werde ich eintreten? Ich will auf die Welt."

aus: 'Canto', Suhrkamp Verlag

Paul Nizon 1993

So beginnt der Schriftsteller seinen Rom-Roman: Drängend, rhythmisch, dem Leben einer Großstadt nachempfunden. Paul Nizon nennt für sich zwei Geburtsdaten: das Jahr, in dem er in Bern zur Welt gekommen ist, und das Jahr, in dem er sich mit seinem Buch "Canto" selber zur Welt gebracht habe. 1929 und 1963.

"Und diese Frauen! Kreuzen dich auf den Straßen, kreuzen auf festen, seidenprallen Beinen den Mann, stumm. Tragen sich heran, tragen drängend ihr Gewölbe, gehn im Dunst ihrer offenen weichen Haut, gehen mit dem Dunkelblick im vogelgroß geweiteten Auge, gehen unter schwarzer Bewimperung. Kreuzen dich mit dem Auge, das dich nicht anschaut, nur scheut. Gehn vorbei und einher. Verwundbar nah. Gehn durch die Stadt in Übermacht."

aus: 'Canto'

Paul Nizon 1989

Paul Nizon und die Frauen, die Liebe, die Nähe, sein "Bedürfnis nach Erotik war unstillbar", erzählt er, eine Suche nach sich selbst. Berühmt, aber nie populär, erhielt der Schweizer Schriftsteller zahlreiche Auszeichnungen, so zum Beispiel 2010 den Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur. Nach dem Abitur studierte er Kunst, Archäologie und Germanistik an den Universitäten in Bern und München, promovierte über Vincent van Gogh, arbeitete als wissenschaftlicher Assistent im Historischen Museum in Bern und war ab 1961 leitender Kunstkritiker der "Neuen Züricher Zeitung". Seine Kritiken sind schriftstellerische Meisterwerke. Gefördert und ermutigt wurde er in seinem Schreiben von Siegfried Unseld, dem legendären Verleger, ist Gast bei der legendären "Gruppe 47", etabliert in der deutschsprachigen Kunstszene und im Literaturbetrieb, trotzdem bricht er dieses Leben ab, geht 1976 nach Paris, der Stadt der Künste und Künstler, wo er neu anfängt, sich als Schreibender neu erfindet und "in Paris seine Lebensschule" fand. Ein "Großstadtnarr", dem keine Stadt zu groß und zu laut sein kann, zu steinern und zu stickig, erzählt Paul Nizon im Gespräch mit Cornelia Zetzsche. Die Stadt, die so wunderbare Sätze aus ihm "herausstampft", wie Paris.

"Ich liebe die Metro. Schon beim Abstieg, im Anprall dieses warmen, dumpfwindigen Aufwinds, der einen anfällt und anpackt, dass man sich dagegen stellen muss und nach den wegflatternden Mantelschößen greift, an den ans Tageslicht steigenden Unbekannten vorbei, die ich grüßen möchte, ich grüße sie insgeheim, mir wird gleich leichter und wohler."

aus: 'Das Jahr der Liebe', Suhrkamp Verlag

Lesung und Gespräch mit Paul Nizon

Paul Nizon 1982

Hymnisch besingt er in seinen Romanen sein Leben, den Rausch der Großstadt. Mehr zum großer Magier der deutschen Sprache gibt es am Sonntag, dem 15. Dezember, um 12.30 Uhr auf Bayern 2. Mit Leseausschnitten aus drei seiner Romane: "Canto", "Das Jahr der Liebe" und "Hund", alle erschienen bei Suhrkamp.

Redaktion und Moderation: Cornelia Zetzsche

radioTexte - Das offene Buch, jeden Sonntag um 12.30 Uhr auf Bayern 2


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