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Vögel, Bäume, Himmelsdramen - Faszination "Nature Writing" Helen Macdonald, Marion Poschmann und Jan Wagner

Genau beobachten, achtsam auf die Natur schauen, das zeichnet einen Autor aus, der sich dem "Nature Writing" verschrieben hat. Helen McDonald etwa, die schon als Kind fasziniert von Greifvögeln war, sie schlief sogar mit den Armen hinter dem Rücken wie Flügel, lebte mit einem Habicht und schrieb über ihn ein Buch, mit dem sie berühmt wurde. Marion Poschmann führt uns zu den Kieferinseln, bei ihr wird die Natur, der Wald zu einem ihrer Protagnisten. Was fasziniert uns an diesen literarischen Texten? Schafft "Nature Writing" einen achtsameren Umgang mit der Natur, tilgt es eine Sehnsucht in uns?

Von: Eva Demmelhuber

Stand: 06.06.2018 | Archiv

Landschaft | Bild: colourbox.com

"Nature Writing"

In den angloamerikanischen Ländern hat "Nature Writing" eine lange Tradition, die vor allem in der letzten Dekade wieder große Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit fand. Deswegen lud das "British Council"/Literatur, das seit über 30 Jahren in Deutschland britische Schriftsteller und Bücher vorstellt, zu einem dreitägigen Seminar ein. Vom 7. - 9. Juni gab es im Münchner Literaturhaus die Möglichkeit, mit Bestseller-Autoren wie Helen Macdonald oder Robert Macfarlane ins Gespräch zu kommen und zu diskutieren: Wie schreiben wir über Natur, Landschaften und deren Bedrohung? Wie können wir unsere Beobachtungen der natürlichen Welt mit Respekt und Glaubhaftigkeit in unserer Literatur umsetzen? Hat "Nature Writing" das Potenzial, unsere Beziehung zu Natur zu verändern?

Helen Macdonald: Unser Verhältnis zur und Entfremdung von der Natur

Als Helen Macdonalds Vater starb, suchte sie nicht Trost in der Familie oder bei Freunden, sondern legte sich einen Habicht zu, der als gewissenloser Killer und als unzähmbar gilt. Erschüttert von der Wucht der Trauer wurde der Kindheitstraum in ihr wach, ihren eigenen Habicht aufzuziehen und zu zähmen. Ein Jahr lang lebte sie mit diesem Vogel, ging jeden Morgen mit ihm auf die Jagd, nahm die Welt mit seinen Augen wahr. Sie lernte durch ihn, der jeden Tag tötete, den Tod anders zu sehen, als etwas Normales, zum Leben gehörende. Dadurch verlor der Tod ihres Vaters an Schrecken, sie konnte ihn akzeptieren. Fünf Jahre später schrieb sie daürber ein Buch, "H wie Habicht", der zum Bestseller wurde. Ein Buch über Trauer, eine literarische Biografie und über Greifvögel.

"Die Wahrnehmung des Vogels wird zur eigenen. Als die Tage in dem abgedunkelten Raum vergingen und ich mich immer mehr in den Habicht hineinversetzte, schmolz mein Menschsein von mir ab."

Helen Macdonald: 'H wie Habicht', Ulstein

Natur müsste eigentlich ein beständiger Schock sein

Schriftstellerin Marion Poschmann

Marion Poschmann, die 2017 mit dem Preis für "Nature Writing" geehrt wurde, der zum ersten Mal in Deutschland vergeben wurde, sagte in ihrer Dankesrede: "Natur ist unglaublich, sie ist ein Wunder. Etwas wächst, entwickelt sich, ohne dass es im menschlichen Sinne gemacht ist. Eigentlich müßte das ein beständiger Schock sein, aber wir haben uns daran gewöhnt und nehmen das gleichgültig hin." Marion Poschmann schaut als Schriftstellerin genauer hin auf das vermeintlich Gewohnte, auf unser Umfeld, die Natur. Was in der angloamerikanischen Literatur Tradition hat, wird nun auch bei uns entdeckt, die Natur als Spiegel für das Menschsein.

In ihrem Roman "Kieferninseln" wird der Wald neben Yosa, einem japanischen Studenten, der sich in dem Selbstmordwald "Aokigahara" das Leben nehmen will, und Gilbert, der nach Japan reist, um seine Frau zu vergessen, zum dritten Protagonisten:

Der japanische Selbstmörderwald Aokigahara

"Gereizt betrat Gilbert den Wald, gereizt nahm er zur Kenntnis, daß sie der papierenen Autorität des Suizidhandbuchs folgten, die sie einen langweiligen Fußpfad entlang und dann auf Abwege führte. Der Wald öffnete seine schwrazen Schwingen, schloß sich um sie, zog sich seufzend dichter und dichter zusammen. Wem wollte man entfliehen, wenn man diesen Wald betrat. Ein mächtiges Blätterwesen hüllte sie in seine Feuchtigkeit, hüllte sie ein mit seinem respektgebietenden Rauschen, dem Wehen und Wispern, dem unheilverkündenden modrigen Duft."

Marion Poschmann: 'Kieferninseln', Suhrkamp

Aktive Natur

Büchner-Preisträger Jan Wagner

Büchner-Preisträger Jan Wagner ist kein Naturlyriker, der vom Olm bis zum Otter alles bedichtet. Er konfrontiert uns mit der Natur, lässt die Natur aktiv handeln oder funktioniert sie um, wie zum Beispiel einen Champignon, an dem er zu Hause dreht wie an einem Tresor, um ihm das Pilzrezept seiner Großmutter zu entlocken. Oder wie er Sommerwärme beschreibt: "die luft strickt wollene socken".
Nicht umsonst verlieh ihm die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung den Büchner-Preis wegen seiner "neugierigen, sensiblen Erkundungen des Kleinen und Einzelnen, mit einem Gespür für untergründige Zusammenhänge und mit einer unerschöpflichen Phantasie lassen sie Augenblicke entstehen, in denen sich die Welt zeigt, als sähe man sie zum ersten Mal."

"herbstvillanelle
den tagen geht das licht aus
und eine stunde dauert zehn minuten.
die bäume spielten ihre letzten farben.
am himmel wechselt man die bühnenbilder
zu rasch für das kleine drama in jedem von uns:
den tagen geht das licht aus.
dein grauer mantel trennt dich von der luft,
ein passepartout für einen satz wie diesen:
die bäume spielten ihre letzten farben.
eisblaue fenster - auf den wetterkarten
der fernsehgeräte die daumenabdrücke der tiefs..."

Jan Wagner: 'Probebohrung im Himmel', Berlin Verlag

Lesung und Gespräch mit Helen Macdonald

"Nature Writing" im "Offenen Buch"
Zu hören sind Helen Macdonald und ihr Buch "H wie Habicht", Büchner-Preisträger Jan Wagner und seine "herbstvillanelle", und Marion Poschmann führt im Roman "Die Kieferninseln" in einen japanischen Selbstmörderwald. Es lesen Sybille Canonica, Paul Herwig und Jan Wagner.

"radioTexte - Das offene Buch" am Sonntag, dem 10. Juni um 12.30 Uhr auf Bayern 2
Redaktion und Moderation: Cornelia Zetzsche


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