Bayern 2 - radioTexte


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Zu Gast bei "HME" Enzensbergers Jugendmemoiren in Anekdoten

Es sind definitiv mehr als "Eine Handvoll Anekdoten", die von den Kindheits- und Jugendjahren Hans Magnus Enzensbergers erzählen. Kein Wunder: Denn von 1929, seinem Geburtsjahr, bis zur Studentenzeit des jungen "HME" Mitte der 50er Jahre ist in Deutschland historisch nicht gerade wenig vorgefallen. In lakonischen Sprachbildern und kühnen Erinnerungssprüngen folgen wir den Abenteuern eines gewissen "M.", der von früher Lektürelust, von erster Liebe, Fahnenflucht und studentischer Freiheit erzählt. Hans Magnus Enzensberger, der am 11. November seinen 90. Geburtstag feiert, liest selbst.

Von: Kirsten Böttcher

Stand: 01.11.2018 | Archiv

Zu Gast bei Hans Magnus Enzensberger: Der Schriftsteller feiert am 11. November seinen 90. Geburtstag. Er ließ es sich nicht nehmen, aus seinem Buch "Eine Handvoll Anekdoten" selbst vorzulesen. Rechts: BR-Redakteur Antonio Pellegrino | Bild: BR / Kimmelzwinger

"Wenn er über sich selber schreibt,
schreibt er über einen andern.
In dem, was er schreibt,
ist er verschwunden."

(Hans Magnus Enzensberger, Eine Handvoll Anekdoten)

Einer der prägendsten deutschen Schriftsteller seit der Nachkriegszeit hat einen Teil seiner Memoiren geschrieben - eigentlich nichts Seltenes. Doch Hans Magnus Enzensberger blickt nicht auf seine Karriere als international anerkannter Autor zurück, sondern erzählt von den Jahren, in denen er noch nichts publiziert hatte, noch kein dichtender Überflieger war. Beginnend mit seinem Geburtsjahr 1929 berichtet der Sohn eines Oberpostdirektors und einer Erzieherin von der Familienbande, frühesten Erinnerungen ("Nichts besonderes aus den ersten dreißig Monaten!“), der ersten Liebe, von den Anfängen des Nationalsozialismus und von Julius Streicher als Nachbarn, von Fahnenflucht, amerikanischen Soldaten und Studienjahren.

Erinnerungen eines gewissen "M."

Hans Magnus Enzensberger hält auf dem Kongress "Notstand der Demokratie" am 30. Oktober 1966 in Frankfurt auf dem Römerberg eine Ansprache.

Das alles durchlebt aber kein „ich“, sondern ein „ er", ein gewisser „M“. Und das auch nicht in fortlaufender Prosa, sondern in wohlgesetzten wenigen Worten, in Anekdoten, insgesamt angelegt als „Opus incertum“, so der Untertitel des Buches, als ein "unregelmäßiges Werk" - so wie früher teilweise römische Mauern gebaut wurden mit unregelmäßig geformten und verteilten Bruchsteinen. Also ja, der berühmte „ HME" hat eine Autobiografie geschrieben, aber auf seine, auf eine verschmitzte Art, in der sich das "ich" versteckt. Wunderschöne Familienfotos stehen neben lakonischem Wortwitz, berührende Sprachbilder zeichnen eine trotz aller politischen Umstürze recht glückliche Kindheit mit nähenden Tanten und faszinierendem Tante-Emma-Laden, daneben stehen kraftvoll lakonische Zustandsbeschreibungen eines Teenagers mitten im Krieg

"Der Krieg hat ihm nicht viel ausgemacht. Gewissensbisse: selten; Schuldgefühle: Fehlanzeige. Auf die ersten Toten, die er auf seinen Streifzügen am Straßenrand liegen sah, reagierte M. merkwürdig ungerührt, so als hätte er sich vor einer feindlichen Welt bereits eingeigelt."

(Hans Magnus Enzensberger, Eine Handvoll Anekdoten)

Hans Magnus Enzensberger, der am 11. November seinen 90. Geburtstag feiert, hat es sich nicht nehmen lassen, aus seinen „Anekdoten“ selbst zu lesen. Die radioTexte am Dienstag haben ihn zu Hause in München-Schwabing besucht. 

HME in aller Kürze

Hans Magnus Enzensberger, Günter Grass und Peter Rühmkorf (v. l. n. r.) bei einem Treffen 2005

Der Dichter, Schriftsteller, Herausgeber, Übersetzer und Redakteur wurde 1929 in Kaufbeuren geboren, wuchs in Nürnberg auf, studierte Germanistik und Philosophie, war zeitweise als Rundfunkredakteur für Alfred Andersch tätig, nahm an Sitzungen der Gruppe 47 teil und war Lektor bei Suhrkamp. Er lebte einige Zeit in Norwegen, längere Zeit in Berlin, seit 1980 in München. 1968 brach er eine Gastdozentur in den USA ab und ging nach Kuba. Enzensbergers Werk, vor allem als Lyriker und Essayist, hat die deutsche Literatur seit den 60er Jahren mitgeprägt. Daneben stand eine umfangreiche Herausgebertätigkeit: Von 1965 bis 1975 gab er die Zeitschrift "Kursbuch" heraus, von 1980 bis 1982 die Zeitschrift "TransAtlantik" und von 1985 bis 2004 die Reihe "Die Andere Bibliothek". Er publiziert unter den Pseudonymen Andreas ThalmayrLinda QuiltElisabeth AmbrasGiorgio PellizziBenedikt PfaffTrevisa Buddensiek sowie Serenus M. Brezengang. Enzensberger ist in München-Schwabing zu Hause.

"Eine Handvoll Anekdoten - auch Opus incertum“

von und mit Hans Magnus Enzensberger

am 5. November in den radioTexten am Dienstag um kurz nach 21.00 Uhr auf Bayern2 

Das Buch mit 122 vierfarbigen Abbildungen ist im Suhrkamp Verlag erschienen. 

Moderation: Antonio Pellegrino

Unsere Lesungen können Sie nachhören: auf dieser Seite im Stream, als Download im Podcast-Center des Bayerischen Rundfunks und überall, wo es Podcasts gibt.


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