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Vom Normalen und vom Abgleiten in dunkle Sphären Ferdinand von Schirach: "Strafe"

Ferdinand von Schirachs Werke sind weltweit in millionenfacher Auflage erschienen. "Die meisten Menschen kennen den gewaltsamen Tod nicht, sie wissen nicht, wie er aussieht, wie er riecht und welche Leere er hinterlässt. Ich dachte an die Menschen, die ich verteidigt hatte, an ihre Einsamkeit, ihre Fremdheit und ihr Erschrecken über sich selbst", erzählt der ehemalige Strafverteidiger.

Von: Eva Demmelhuber

Stand: 25.05.2018 | Archiv

Ferdinand von Schriach | Bild: picture-alliance/dpa

Über Wahrheit und Wirklichkeit

Bereits Ferdinand von Schirachs erstes Buch "Verbrechen", das 2009 erschien und in dem er erstmals Fälle aus seiner Kanzlei literarisch verarbeitete, stand über 61 Wochen lang auf der Bestseller-Liste des "Spiegel" und wurde auch international ein großer Erfolg. "Schuld", sein zweiter Band der Trilogie ein Jahr später, erneut ein Bestseller. Immer wieder beschäftigt er sich mit dem Thema Wahrheit, dem Menschsein, den menschlichen Abgründen, dem winzigen Schritt, der jeden von uns zum Mörder machen kann. Nüchtern, kühl schaut er hinter die Fassade des Alltags. Bei seiner wichtigsten literarischen Auszeichnung, dem Kleist-Preis, den er 2010 für sein Debüt bekam, sagte er in seiner Dankesrede:
"Der Schriftsteller schreibt, was er schreibt. Er nimmt die Worte, die er für passend hält. Es ist seine Geschichte – oder anders gesagt: Das Gehirn des Schriftstellers ist ein Filter wie die Strafprozessordnung. Eine Geschichte kann deshalb nie Abbildung der Wirklichkeit sein. Sie ist – analog zur strafprozessualen Wahrheit – literarische Wahrheit."
Cornelia Zetzsche im Gespräch mit Ferdinand von Schirach.

Cornelia Zetzsche: „Strafe“ heißt der dritte Band Ihrer Trilogie von zwölf mörderischen Geschichten, die Sie als Gerichtsfälle erzählen. Ihr Personal sind auf den ersten Blick Durchschnittsmenschen, Eheleute, Nachbarn, eine junge Mutter, ein Freund, eine Witwe. Aber hinter dem ganz normalen Alltag lauern Abgründe, psychische und physische Grausamkeit, extreme Sexualpraktiken, Mord. Ich las Ihre Erzählungen, ging auf die Straße und fragte mich, kann man, wenn man sich ständig mit dieser Materie beschäftigt, noch unbefangen auf die Straße gehen und Menschen begegnen?

Rechtssicherheit über Gerechtigkeit

"Das Ziel von Rechtsprechung ist nicht Gerechtigkeit im Einzelfall, sondern in allererster Linie Rechtssicherheit, die Rechtssicherheit ist das höhere Gut." (Ferdinand von Schirach)

Ferdinand von Schirach: Ja natürlich. Das ist ja ein Teil unserer Wirklichkeit. Sie gehen über die Straße und sehen überhaupt nicht, was der andere denkt. Ich hatte einen Fall, der wirklich entsetzlich war, das war ein Mann, der mit einer Frau zusammenlebte und dieses Zusammenleben gestaltete sich in normalen Bahnen. Später brachte er ein Kind um, und im Gefängnis sagte er: 'Ich gehe oft über die Straße und es ist alles ganz friedlich, dann sehe ich ein Kind und denke mir, wie toll es wäre, dem Kind die Haut abzuziehen.' Das ist natürlich ein extremes Beispiel, aber tatsächlich sehen Sie nicht, was Menschen denken.

Würden Sie sagen, die Ursache für Verbrechen ist der Mensch mit seinen Schwächen, mit seinen Unzulänglichkeiten oder würden Sie weiter gehen und sagen, ja, in uns steckt doch etwas Böses?

Ich glaube, dass der Mensch alles sein kann: Der Mensch kann 'Figaros Hochzeit' komponieren oder er kann Guernica malen, er kann die größten Kunstwerke schaffen oder ins Weltall fliegen und gleichzeitig zettelt er Kriege an und mordet und verhält sich böse zu seinen Mitmenschen. Aber das alles ist immer der Mensch.

Sie sprachen von Ihrer Arbeit als Strafverteidiger und in Ihrer letzten Geschichte "Der Freund" gibt es einen Ich-Erzähler, der sagt, er habe nach 20 Jahren als Strafverteidiger zu schreiben begonnen. Es war ihm zu viel geworden. Spricht dieser Ich-Erzähler auch von seinem Autor?

Ja.

Das heißt, Schreiben ist ein Ventil?

Nein, es ist kein Ventil, es ist etwas anderes. Es ähnelt dem Beruf des Anwalts, denn auch der Strafverteidiger - also nicht der zivile Anwalt - der Strafverteidiger erzählt die Geschichte seines Mandanten, weil der Mandant das oft selbst nicht gut kann. In der Schweiz beispielsweise heißen oder hießen Anwälte "Fürsprecher", sie sprachen für ihren Mandanten und erzählten seine Geschichte. Das macht ein Schriftsteller auch. Mit dem Schreiben zu beginnen, hatte folgenden Grund: Irgendwann war auch bei mir - wie in dieser Erzählung - so ein bisschen eine Grenze erreicht, und es wurde zuviel. Irgendwann wird dieser Beruf auch schwierig. Die meisten Menschen wissen überhaupt nicht, wie der Tod aussieht, wie er riecht, oder was dahinter steckt. Man sieht in einem Film eine Leiche auf einem Obduktionstisch, aber die Wirklichkeit ist dann tatsächlich vollkommen anders. Und wenn man so viele Menschen am Abgrund gesehen hat, die nackt vor einem stehen und die nichts mehr haben außer ihrem Menschsein, dann erträgt man das vielleicht. Es gibt Leute, die das lange ertragen, aber ich habe es nur eine gewisse Dauer ertragen, und dann war ich sehr froh, dass ich etwas anderes machen durfte.

Die Täter stehen von Anfang an fest. Viele Täter in Ihren Erzählungen entgehen aber ihrer Strafe. Haben Sie denn da noch Vertrauen in unser Rechtssystem?

Gerade deshalb!

Auch wenn ein russischer Mafioso, ein Menschenhändler, freikommt wegen eines Verfahrensfehlers?

"Die Schöffin"

"Katharina wuchs im Hochschwarzwald auf. Elf Bauernhöfe auf 1100 Meter Höhe, eine Kapelle, ein Lebensmittelgeschäft, das nur montags geöffnet hatte. Sie wohnten im letzten Gebäude, einem dreistöckigen Hof mit heruntergezogenem Dach. Es war das Elternhaus ihrer Mutter. Hinter dem Hof war der Wald und dahinter waren die Felsen und dahinter war wieder der Wald. Sie war das einzige Kind im Dorf... "
So harmlos beginnt die Erzählung, die Katja Bürkle im "Offenen Buch" liest

Ja genau deshalb! Stellen Sie sich eine Situation vor, wie ich sie einmal erlebt habe, dass ein Mörder nicht gestanden hat, und man denkt, er war es, vieles spricht dafür. Man hört sein Telefon ab, da gesteht er einem Freund den Mord am Telefon, das würde für einen Beweis vor Gericht und für eine Verurteilung ausreichen. Dann stellt sich heraus, dass der Beschluss, den der Richter erlassen sollte, um das Telefon abzuhören, nicht vorlag. Und deswegen ist das Telefonat, das den Mann überführen würde, im Gerichtssaal nicht verwertbar als Beweis. Jetzt könnte man sagen, das ist ja furchtbar ungerecht, da kommt ein Mörder frei, wie schrecklich. Das stimmt auch für den einzelnen Fall, aber das Ziel von Rechtsprechung ist nicht Gerechtigkeit im Einzelfall, sondern in allererster Linie Rechtssicherheit, und die Rechtssicherheit ist das höhere Gut. Das führt nämlich letztlich dazu, dass wir nicht dauernd alle abgehört werden können, und deshalb ist so ein Freispruch als Einzelfallgerechtigkeit unangenehm, aber im großen Ganzen ist es richtig.

Auch eine solche illegale Abhöraktion kommt in einer Ihrer Geschichten vor. Da fand ich es völlig legitim, dass der Täter frei freikam. Im Falle dieses russischen Mafioso, der mit Frauen handelt, der wegen eines Verfahrensfehlers straffrei ausging, habe ich gedacht, jetzt reagiere ich doch wie jeder, der sagt, Recht ist nicht Gerechtigke

Ferdinand von Schirach

Wurde 1964 in München geboren. Sein Abitur machte er im Jesuiten Kolleg St. Blasien. Nach seinem Studium in Bonn und seinem Referendariat in Köln ließ er sich 1994 in Berlin als Rechtsanwalt nieder und spezialisierte sich auf Strafrecht.Sein Theaterstück "Terror" zählt zu den weltweit erfolgreichsten Dramen unserer Zeit. Zuletzt erschien von ihm im Herbst 2017 unter dem Titel "Die Herzlichkeit der Vernunft" ein Band mit Gesprächen mit Alexander Kluge. Der Schriftsteller und Dramatiker lebt Berlin.

Ich sage ja, die Einzelfallgerechtigkeit ist nicht das Ziel, im Gesamten ist die Rechtssicherheit das höhere Gut und das Wichtigere. Das ist schwer zu begreifen und noch schwerer zu ertragen, aber glauben Sie mir, es ist richtig. Wenn wir sozusagen nach Lust und Laune und nach unseren Gefühlen urteilen würden, wäre das ein Staat, in dem ich nicht leben möchte.

"Strafe", Ihr neuer Erzählband, enthält zwölf Geschichten von seelischer und physischer Grausamkeit, eine Schöffin muss urteilen und leidet selbst unter der Gewalterfahrung in der Kindheit, ein Mann wird gewalttätig für eine Puppe, seine Lebensgefährtin, Ehefrauen töten aus Verzweiflung, aus Rache, als Akt der Befreiung. Das alles ist erzählt mit großer Authentizität, nicht nur weil juristische Vokabeln darin auftauchen, sondern weil Sie aus dem juristischen Alltag schöpfen. Wann wird denn ein Fall für Sie zu einem literarischen Motiv, das Sie dann entsprechend verwenden und verfremden?

Das kann ich so nicht sagen. Das sind ja nicht einzelne, sondern zusammengesetzte Fälle. Mich interessiert auf der einen Seite das ganz Normale dieser Geschichte und gleichzeitig das Außergewöhnliche, das Abgleiten in eine dunklere Sphäre.

Ihre Bücher sind Bestseller, Ihre Erzählkunst ist ein Teil des Erfolgsrezepts, der Fokus auf menschliche Abgründe ein anderer. Brauchen wir Menschen den Grusel, die Konfrontation mit dem Abgründigen, dem Schrecklichen?

Ich bin mir nicht so sicher, ob das den Reiz der Geschichten ausmacht. Es ist vielleicht so, dass wir  gerne Kriminalromane lesen oder den 'Tatort' sehen, weil der Gangster zu unserem Stellvertreter wird: Er darf Dinge tun, die wir selbst nicht tun dürften. Stellen Sie sich vor, Sie gehen in ein Restaurant und werden von dem Kellner blöd behandelt. Normalerweise reißen wir uns dann zusammen, und am Ende geben wir ihm auch noch Trinkgeld. Aber Tony Soprano würde ihn sofort ohrfeigen oder Al Pacino in "Scarface" würde ihn erschießen.
Das andere ist – und das trifft vielleicht meine Bücher eher – so ein Übergang zwischen unserer ganz geordneten Welt und dem Chaos. Also: Eine Wiese im Sommer, Strohblumen, Hafer, Gras, der Bach, vielleicht sind Ferien, der Geruch des Sommers und plötzlich kommt ein furchtbarer Abgrund, unvermittelt, das Grauen, etwas, das darunter liegt, wenige Zentimeter tiefer, zersplitterte Knochen liegen dort, eine abgeschlagene Hand, ein Kopf ohne Augen, und dann geht es wieder weiter mit der ruhigen Sommerwiese. Dieser Gegensatz macht es vielleicht aus. Anders gesagt: Ich glaube, dass unser Leben sehr filigran ist und alles eng beieinander liegt und trotzdem oder vielleicht gerade deshalb das Dunkle in uns allen ist und diese Geschichten das hervorholen.

"Wenn alles still ist, geschieht am meisten"

Dieses Zitat von Søren Kierkegaard stellt der Schriftsteller Ferdinand von Schirach seinem neuen Erzählband voran. Auch die Geschichte "Die Schöffin", die die Schauspielerin Katja Bürkle, die gerade vom größtenTeheraner Fadjr Theatre Festival ausgezeichnet wurde, liest, beginnt ganz leise.
Sonntag, 27 Mai um 12.30 Uhr auf Bayern 2
Regie: Eva Demmelhuber
Redaktion und Moderation: Cornelia Zetzsche


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