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Thomas Melle "Die Welt im Rücken"

Um die Gesundheit war es in seinen Erzählungen und Romanen noch nie sonderlich gut bestellt. Nun tritt Thomas Melle mit einer ebenso eindringlichen wie ausschweifenden autobiographischen Selbsterkundung hervor und zeigt sich uns als ein Autor, für den Krankheit nicht nur ein literarisches Thema sondern eine existentielle Befindlichkeit ist. Das Buch ist Kandidat für den Deutschen Buchpreis 2016.

Von: Eberhard Falcke

Stand: 05.09.2016

Buch-Cover "Die Welt im Rücken" von Thomas Melle | Bild: rowohlt Berlin; Montage: BR

In seinem Fall geht es um eine Bipolare Störung. Die damit verbundenen manischen und depressiven Schübe haben sein bisheriges Erwachsenenleben geprägt und damit zugleich sein Agieren als Schriftsteller, sei es beim Schreiben, sei es auf öffentlichem Parkett. Daraus ist mancherlei entstanden, nicht zuletzt Klärungsbedarf.

"Ich bin zu einer Gestalt aus Gerüchten und Geschichten geworden. Jeder weiß etwas. In meine Bücher ist es unauslöslich eingesickert. Sie handeln von nichts anderem und versuchen doch, es dialektisch zu verhüllen. So geht es aber nicht weiter. Die Fiktion muß pausieren. Ich muß mir meine Geschichte zurückerobern."

 Thomas Melle in Die Welt im Rücken                           

Krankengeschichte als Literatur

"Die Welt im Rücken" heißt Melles neues Buch, in dem er seine Krankengeschichte offen legt und nachzeichnet. Der im Rückblick rekonstruierte Zeitraum umfaßt die Jahre von 1999, als Melle Student war, bis 2016, da er auf eine zwar wechselhafte, doch keineswegs erfolglose Schriftstellerlaufbahn zurückblicken kann. Für seine Bücher erhielt er beträchtliche Anerkennung, und im übrigen verstand er es, sich durch Schreibinterventionen im Internet oder mal sachdienliche, mal brüskierende Auftritte in der Literaturszene bemerkbar zu machen. Die Kraft und der Schwung dazu verdankten sich vorwiegend den extremen Antriebsformen langandauernder manischer Schübe.

"Als tatsächlich freier Radikaler schwirrte ich durch die Gegend und wurde immer unberechenbarer. Ich reiste nach Köln, auf irgendein Literaturevent. Ich kam zu spät, rauchte blasiert, obwohl es verboten war, gab aggressive, unsinnige Antworten, hätte fast das Mikro zerstört. Abends schüttelte ich (tatsächlich) Patti Smith die Hand, grüßte Alice Schwarzer, morgens sagte ich Roger Willemsen irgendeinen Unsinn über Charlotte Roche, setzte mich dann ans Klavier im Hotelfoyer und spielte drauflos. Daß ich nicht Klavier spielen kann, muß ich wohl kaum erwähnen."

Thomas Melle in Die Welt im Rücken    

Vom Größenwahn und destruktiven Aktionen

Diese Krankengeschichte ist aufs engste verschränkt mit der Thematik der künstlerischen Kreativität, obwohl Melle alle Deutungsmuster, die unter dem Oberbegriff „Genie und Wahnsinn“ kursieren, ausdrücklich zurückweist. Ebenso übrigens wie das Fritz-Zorn-Argument aus den siebziger Jahren, daß es die falsche Einrichtung der Gesellschaft sei, die als Ursache für Krankheiten zu gelten habe. Stattdessen betont Melle die, wie er sagt, „biologischen und neurologischen Ursprünge“ der manisch-depressiven Störung. Aufenthalte in der Psychiatrie und mehrere Selbstmordversuche waren die Tiefpunkte seiner akuten Krankheitsphasen. Unter den häufigsten Symptomen, die Melle beschreibt, dominieren jedoch destruktive Affekte, wie etwa das hinterher beklagte Verschleudern seiner sorgfältig angelegten Bibliothek, oder schlichtweg ein wirrer Größenwahn. 

"Ich bin das Opfer des Weltgeistes. Ich bin der, den der Weltlauf aus der Kurve warf. Wie konnte ich die letzten Jahre nur verstreichen lassen, ohne meine privilegierte Position und meine unglaublichen Fähigkeiten in den Dienst der Menschheit zu stellen. Hätte ich die Erkenntnis von 1999 nicht verdrängt, es hätte den elften September nicht gegeben! Das muß man sich mal vorstellen!"

Thomas Melle in Die Welt im Rücken    

Literarische Selbsttherapie

Melles Wahn bestand über lange Phasen hinweg in dem übermächtigen Empfinden, im Mittelpunkt von allem und jedem zu stehen. Dadurch wurden zwar hektische Aktionen und Reaktionen angeheizt, doch für formale oder gedankliche Gestaltung blieb wenig Spielraum. In einem gewissen Grad gilt das auch für diesen durchaus ergreifenden Versuch einer literarischen Selbsttherapie. Die längste Zeit nämlich versetzt sich Melle unmittelbar zurück in die Zustände und Erfahrungsweisen seiner manischen Schübe. Da die affektiv durchglühte Schilderung zu seinen Stärken gehört, gelingt ihm das mit einiger Intensität. Doch eine geschärfte analytische Selbsterforschung und Reflexion zeigt sich bei alledem nur gelegentlich und dann eher unentschieden. Trotzdem ist „Die Welt im Rücken“ ein starkes Zeichen in der literarischen Landschaft, das zahlreiche Anreize zur Auseinandersetzung bieten kann.

Thomas Melle: "Die Welt im Rücken", Roman, 352 Seiten, Rowohlt Berlin 2016, 19,95 Euro.


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