Bayern 2

     

radioTexte am Dienstag Jean de La Bruyère: Die Charaktere

Jean de La Bruyère (* 16. August 1645 in Paris; † 10. Mai 1696 in Versailles)
Porträt des Schriftstellers, Paris 16.8.1645 - Versailles 10./11.5. 1696. Öl auf Kupfer | Bild: picture-alliance/dpa/akg

Dienstag, 05.02.2019
21:05 bis 22:00 Uhr

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"Der Gelehrige und der Schwache sind für Eindrücke leicht empfänglich, der eine für gute, der andere für schlechte", so der französische Moralist Jean de La Bruyère in seinem Standardwerk "Les caractères"

Als Erzieher des Duc de Bourbon hatte der Bürgersohn La Bruyère Einblick in die Sitten und Gebräuche der aristokratischen Kreise der französischen Hofgesellschaft, die er in seinem Hauptwerk "Les Caractères" zuweilen auch kritisiert. Dabei mag auch seine bürgerliche Herkunft eine Rolle gespielt haben. Seine Tiraden richten sich immer gegen den einzelnen Menschen, niemals gegen das konsolidierte Machtgefüge. Dennoch wurden von seinen Zeitgenossen die Porträts der einzelnen Charaktertypen mit großem Interesse gelesen, da unter den prominenten Lesern viele glaubten, sich wiederzuerkennen. Mit Witz und Ironie und mit viel Sinn für das humorvolle, aber stets formvollendete Urteil ("Der Gelehrige und der Schwache sind für Eindrücke leicht empfänglich; der eine für gute, der andere für schlechte") zeichnet La Bruyère auch ein sozialkritisches Bild der Pariser Gesellschaft im ausgehenden 17. Jahrhundert ("In Zeiten blühender Gesundheit zweifelt man am Dasein Gottes, wie man die Sündhaftigkeit des Umgangs mit einem losen Frauenzimmer bezweifelt"). Er entwirft dabei eine in manchen Fällen heute noch treffende Typologie der einzelnen Charaktere: Da sind der geldgierige Finanzjongleur, der ehrgeizige Literat, der mondäne Geistliche, der frömmlerische Heuchler. Vor seiner spitzen, treffsicheren Feder ist keiner sicher.