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Fränkische Märchenerzähler Das Märchen war nicht mal – es ist immer noch!

Sie erzählen von wundersamen Begebenheiten. Geschichten mit Hexen, Zwergen und Feen begeistern Kinder seit uralter Zeit. Inzwischen sind Märchen keineswegs altmodisch, sondern im Gegenteil wieder sehr gefragt.

Von: Carlo Schindhelm

Stand: 27.12.2018 | Archiv

Immer freitags hält Gesine Kleinwächter einen silberfarbenen Schlüssel vor sich und macht eine Bewegung, als wolle sie eine Tür öffnen – die symbolische Märchentür.

"Mit diesem kleinen Glöckchen hier, da öffnen wir die Märchentür und wir alle gehen zugleich in ein buntes Märchenreich. Der Schlüssel dreht sich und kracht, Krick, Krack, Krick, Krack."

Gesine Kleinwächter, Märchenerzählerin

Kinderzeichnung eines Erstklässlers der Grundschule Heuchelhof in Würzburg

Seit fünf Jahren kommt sie in die Grundschule Heuchelhof in Würzburg. Dort ist die Märchenstunde ein fester Bestandteil des Stundenplans der Erst- und Zweitklässler. Gemeinsam mit zwei anderen Erzählerinnen hat Gesine Kleinwächter das Projekt "Erzählkunst macht Schule" gegründet. Die Erzählerinnen besuchen inzwischen regelmäßig sechs Schulen und zwei Kindergärten in Unterfranken. Im Anschluss an das Gehörte lässt Kleinwächter die Märchen nacherzählen und malen.

Das Sprachverständnis von Kindern wecken

Die Grundschullehrerin Annette Herrmann greift die Märchen dann meist im Deutschunterricht noch mal auf. Dort ist Zeit, Begriffe zu klären oder ein, zwei Sätze zu den Märchen aufzuschreiben. Ziel der Märchenstunde ist die Sprachförderung.

"Es ist ein weiteres Angebot für den mündlichen Sprachgebrauch und die Kinder brauchen das in verstärktem Maße, dass wir diese mündliche Sprache pflegen. Die Sätze im Märchen sind zwar ein bisschen außergewöhnlich, aber trotzdem nehmen sie da wieder verschiedene Wörter auf, fremde Wörter werden geklärt und so können wir auch den Sprachschatz der Kinder erweitern."

Annette Herrmann, Grundschullehrerin

Welt- und Werteorientierung vermitteln

Martin Beyer erzählt Schülern des Bamberger Clavius-Gymnasiums Geschichten.

Die alten Mythen sollen das Sprachverständnis von Kindern wecken und ganz nebenbei noch Orientierung und Trost bieten. Märchen sind Geschichten, mit denen sich Kinder kulturübergreifend identifizieren können. Zum einen, weil Menschen Märchen in ganz unterschiedlichen Kulturen ähnlich erzählt und weiter getragen haben. Zum anderen, weil sie sich mit ganz grundlegenden menschlichen Bedürfnissen beschäftigen: mit Anerkennung und Selbstzweifel, mit Scheitern und Erfolg, mit Gut und Böse. Märchen geben den Kindern einen ersten Eindruck von der Welt.

"Wie finden wir Orientierung in der Welt? Durch das Erzählen von Geschichten. Das Anhören und Verarbeiten. Und jetzt erklärt uns gerade die Neurowissenschaft, dass wir Geschichten sehr viel besser abspeichern können als bloße Fakten."

Martin Beyer, Autor und Dozent für Storytelling

Die erfundene Märchenakademie

Martin Beyer hält einen Vortrag im Clavius-Gymnasium in Bamberg.

Martin Beyer ist Autor und Dozent für Storytelling. Er hat sich mit den Märchen näher beschäftigt und will Kindern mit einer Märchenakademie Lust auf Fantasiereisen machen. Die Märchenakademie ist eine Fantasieinstitution in Grimmelsbergen. Schülern erzählt Beyer dann, er sei an der Märchenakademie Lehrer für die Fächer "Spannung und Gänsehaut" und "Gruselgeschichten - Erzählen für Anfänger". Beyer zeigt den Kindern dann auch eine schematische Darstellung und erklärt am Beispiel eines Märchens wie Hänsel und Gretel, wie man eine spannende Geschichte erzählen kann. Er regt die Kinder auch dazu an, einmal selbst eine Geschichte zu schreiben.

Für Martin Beyer sind die Märchen so etwas wie Figuren aus Knetmasse, die Kinder mit ein bisschen Fantasie weiter formen, entwickeln und in die heutige Zeit übertragen können. Ursprünglich blieben Märchen ja so ebenfalls über Generationen lebendig – indem Menschen sie weitererzählten. Erst die Brüder Grimm haben sie aufgeschrieben und damit festgeschrieben.

Geschichtenerzählen – heute heißt das Storytelling

Die Gebrüder Grimm haben also vorgemacht, wie es geht. "Storytelling" nennt man das heute. An Universitäten steigt Martin Beyer als Dozent tiefer in die Vorgänge des Geschichtenerzählens ein. In ihren Berufen werden die Studenten später auch einmal Geschichten erzählen – ob nun in Form von Illustrationen, Filmen oder Bildern.

Geschichtenerzählen oder "Storytelling" ist längst zu einem Modewort geworden. In den Massenmedien bedienen sich Autoren schon immer bei den Techniken des Erzählens, verpacken selbst Nachrichten so, dass sie spannend sind. Aber auch in der Politik und der Wirtschaft versuchen die Menschen Geschichten zu erzählen, sagt Martin Beyer, um andere überhaupt noch zu erreichen. 

"Man merkt in der Werbung und im Marketing, dass Produkte, wenn sie nur noch über Leistungsmerkmale angepriesen werden, niemanden mehr interessieren. Oder dass Adjektive wie innovativ oder leidenschaftlich die Menschen gar nicht mehr berühren. Also wie kann man Leute noch bei einer Sache halten? Man hat so eine uralte Kulturtechnik wie das Geschichtenerzählen wiederentdeckt – damit geht das noch."

Martin Beyer, Autor und Dozent für Storytelling

Bier, Nudeln oder Marmelade erzählen neuerdings Geschichten

Martin Beyer lehrt nicht nur an Schulen und Universitäten. Inzwischen beauftragen ihn auch Firmen, um etwa den Gründungsmythos eines Unternehmens aufzupolieren. Geschichten zur Mitarbeitermotivation, um sie mit auf die Reise eines Unternehmens zu nehmen, um ihnen zu vermitteln: Hey, du arbeitest mit an etwas ganz Großem. Die Geschichten sollen ihre Kraft innerhalb eines Unternehmens entfalten, aber auch bei den Kunden. Allerweltsprodukte wie eine Flasche Bier, Nudeln oder ein Glas Marmelade erzählen neuerdings Geschichten.

Martin Beyer

"Kunden möchten nicht nur ein sehr leistungsfähiges, effektives Produkt haben. Sie möchten wissen, woher es kommt. Wer es gemacht hat. Gesichter möchten sie dazu haben und auch Misserfolge. Das macht es viel glaubwürdiger, wenn jemand einen hohen Berg erklimmen musste und auch ein paar mal wieder ein bisschen runter gefallen ist und es dann aber doch geschafft hat. Das macht etwas mit uns – da sind wir viel eher bereit, einer Firma, einer Marke, einem Produkt auch ein bisschen länger zu folgen."

Martin Beyer, Autor und Dozent für Storytelling

Märchen in der Psychotherapie

Selbst Psychotherapeuten lassen Märchen in ihre Arbeit einfließen. Im hohen Alter, wenn Menschen an einer Demenz erkranken, verschwinden Worte und Gedanken des täglichen Lebens. Doch an Melodien und die Geschichten aus der Kindheit können sie sich noch lange erinnern. So gelingt es dem Psychotherapeuten Jochen Peichl zum Beispiel immer wieder, die Sprachlosigkeit seiner Trauma-Patienten mit Märchen zu überwinden. Märchen, in denen sich Menschen vielleicht wiedererkennen.

Märchen sind vielen Menschen vertraut. Manche Patienten werden bei modernen Geschichten wie "Star Wars" oder "Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer" fündig, um seelische Zwänge oder Ängste in Worte zu fassen. Aber Jochen Peichl nutzt die Geschichten auch, um seinen Patienten etwas zu verdeutlichen. Etwa die Geschichte über den Scheinriesen Tur Tur auf den Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer auf ihrer abenteuerlichen Reise treffen – der ihnen furchtbar riesig und übermächtig erscheint.

"Die beiden nehmen all ihren Mut zusammen und fahren nicht weg mit ihrer Emma. Sie halten dieses Erschreckende aus – und es wird immer kleiner. Der Herr Tur Tur wird immer kleiner und als er endlich vor ihnen steht, ist er überwältigt. 'Endlich hat mich jemand ausgehalten und ihr seid nicht weggelaufen. Ich bin doch nur ein Scheinriese.'"

Jochen Peichl, Psychotherapeut

Wie grausam sind Märchen?

Doch Grimms Märchen gelten vielen bis heute als zu grausam, als dass man sie Kindern als Gute Nacht-Geschichte vorlesen könnte. Tatsächlich haben es manche Geschichten der Märchensammlung in sich. Bei Hänsel und Gretel mästet die Hexe einen kleinen Jungen, um ihn anschließend zu essen. In Märchen wird gefoltert, vergiftet und gemordet.

Einzigartige Märchenstiftung

Ein Opa liest seinen Enkeln Märchen vor.

Die Grausamkeitsdiskussion ist alt und hatte sicherlich in den 60er- und 70er-Jahren einen Höhepunkt – als Reaktion darauf entstand im unterfränkischen Volkach die deutschlandweit einzigartige "Walter Kahn Märchenstiftung". Walter Kahn war von den Märchenerzählungen in seiner Kindheit so fasziniert, dass der Reisebürokaufmann 1985 die Märchenstiftung gründete. Vor sieben Jahren starb der Unternehmer und Stiftungsgründer Walter Kahn.

Heute engagiert sich sein Enkel Roland Kahn ehrenamtlich im Vorstand der Stiftung. Die erstaunliche Faszination seines Großvaters für die Märchen gründet nicht in einem einzelnen Märchenbuch, sondern in gemeinsamen Vorleseabenden.

"Er hat uns immer gesagt, wie er bei seinem Vater auf dem Schoß gesessen hat als eins von mehr als zehn Kindern. Was wir uns heute schwer vorstellen können, war damals noch üblich. Dadurch hat er eine unheimliche Verbundenheit zu den Märchen entwickelt."

Roland Kahn

Lobbygruppe für Märchen

Die Stiftung ist eine Lobbygruppe für die Märchen und fördert bundesweit Projekte, die sich dem Märchen verschrieben haben. Damit es nicht irgendwann heißt: Es war einmal, sondern: Das Märchen erfreut uns immer noch!


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