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Lass es raus! Über die neue Sangeslust

Ob Kneipenchor oder Rudelsingen – es wird wieder mehr gesungen. Nicht unbedingt immer dem Wohlklang verpflichtet, sondern frei und nur der Lust folgend. Und Balkonkonzerte in Corona-Zeiten zeigen: Singen macht glücklich, nicht nur in Notzeiten.

Von: Horst Konietzny

Stand: 09.04.2020 | Archiv

Die "Kulturmanufaktur Kofferfabrik" in Fürth. Zu einer Zeit, als man bei Viren an Computerprobleme dachte und Pandemie in erster Linie ein Fremdwort war, kamen dort immer wieder viele Menschen zusammen. Um angeheizt von der Performancetruppe "6 auf Kraut" zu singen. Spontan und ohne Vorbereitungen. "6 auf Kraut" ist als Impro-Theatergruppe bekannt geworden und ist in Franken der Pionier des "Ad-Hoc-Singens", das als "Rudelsingen", oder einfach "Kneipensingen" in den letzten Jahren zu einem echten Massenphänomen geworden ist.

"Es ist sicher mehr geworden. Mal sehen, wie sich das aufbläst. Irgendwann ist sicher ein Sättigungsgrad erreicht, aber im Moment ist es am Expandieren. Ich weiß allein hier in Mittelfranken von drei weiteren Teams, die innerhalb des letzten Jahres angefangen haben. Eins in Forchheim, eins in Herzogenaurach und eins in Lauf."

Sigi Wekerle von '6 auf Kraut'

Auf den ersten Blick geht es darum Spaß zu haben und Spaß zu verbreiten. Doch das Thema ist vielschichtiger.

"Wenn man uns, den Vorsängern anmerkt, dass wir wirklich Spaß dran haben, das reißt mit. Es gibt Kollegen, die es nur fürs Geld verdienen machen, diese Mitsingshows - und da hab’ ich schon sehr abgehangene Sachen erlebt. Denen macht es keinen Spaß mehr. Die machen jeden Abend in einer anderen Stadt das gleiche Programm und das merkt man ihnen dann an. Das ist Ihnen schon selbst total langweilig, was sie da machen. Und das reißt dann natürlich auch nicht so mit. Die haben es auch gerne recht duster auf der Bühne und da sieht man nicht so genau, dass es ihnen keinen Spaß mehr macht."

Sigi Wekerle von '6 auf Kraut'

Ein singender, schwingender Klangkörper

Menschen bei einem sogenannten Rudelsingen

In der "Kofferfabrik", bei der liebenswürdigen Truppe von "6 auf Kraut" ist allerdings pure Freude angesagt. Sie packt mit ihren Liedern die Menschen so richtig beim Gemüt und man merkt, dass hier mehr im Raum ist als nur Spaß. Man hat das Gefühl, hundertfünfzig gerade noch wildfremde Kneipengänger schmelzen zu einem singenden, schwingenden Klangkörper zusammen. Eine Art spontane Schicksalsgemeinschaft, die eintaucht in einen kollektiven Traum, den Fahrtwind der Freiheit aufnimmt. Sich so hemmungslos singend hinzugeben, wäre vor ein paar Jahren schwer vorstellbar gewesen. Wie die gesangserfahrene Jodelfreundin Karin Sommer bestätigt.

"Es hat damit zu tun, dass eine neue Generation heranwächst. Und dass die Generation, die auch geschädigt worden ist von der NS-Zeit und von dem Missbrauch, den die Nazis betrieben haben, in dem sie die Volkslieder und andere Lieder hergenommen haben für ihre eigenen Zwecke. Seitdem diese Generation im Ruhestand ist und die andere Generation unverkrampft an diese herangeht. Es ist lange Zeit weder in den Kindergärten noch in den Schulen gesungen worden und das fand ich total schade, weil wir einfach wunderschöne Volkslieder haben. Wenn man als Deutsche irgendwo im Ausland gewesen ist und es gab ad-hoc irgendwelche Singereien, da hat es dann immer geheißen, singt doch ihr auch mal ein schönes Lied und dann hat's bei uns nach dem dritten Lied ausgesetzt. Und das fand ich schon schade."

Karin Sommer

Musischer Unterricht war lange Zeit nicht so wichtig

Wie soll man den Verlust von etwas spüren, das man nie richtig erlebt hat? Das man nicht gelernt hat, weil der musische Unterricht als nicht so wichtig empfunden wurde. Dabei ist das Erlebnis der eigenen Stimme vielleicht eine der elementarsten Erfahrungen im Leben, das mit dem ersten Schrei beginnt und mit dem letzten Seufzer endet. Und die Stimme ist der Weg, der uns mit anderen verbindet. Eine Erfahrung, die man gerade in den Zeiten der Krise so eindrücklich macht, wenn man die Menschen auf ihren Balkonen singen hört. Sehr schön drückt dies Alexandra Naumann in dem Band "Die Philosophie des Singens" aus.

"Wenn wir uns in Stimmen verlieben - was ist es, das uns da anzieht, berührt, durcheinanderbringt und verändert, so, wie es sonst eigentlich nur ein komplettes menschliches Gegenüber kann? Wir gehen in Resonanz, spüren die Stimme des anderen in uns, als wären wir es selbst, der da singt. Vielleicht singen wir mit und spüren die Verbindung noch direkter, fühlen, wie neue Saiten von uns ins Schwingen geraten, von denen wir ahnen, dass sie zu uns gehören, auch wenn wir sie vielleicht selbst noch nicht ausdrücken können."

Alexandra Naumann in 'Die Philosophie des Singens'

Die Stimme erheben – im Erlanger E-Werk

Sandra Schwarz ist staatlich geprüfte Singschullehrerin und leitet den Erlanger Kneipenchor im dortigen Veranstaltungszentrum "E-Werk". Was ist das Besondere an einem Kneipenchor?

"Ich glaube, das hat erst einmal etwas mit dem Image zu tun. Wenn ich sage, ich singe im Gesangsverein XY und da singe ich immer dasselbe, dann ist das ganz anders, als wenn ich sage, ich singe im Erlanger Kneipenchor. Dann ist das schon mal grundsätzlich cooler. Obwohl ich finde, dass dieser Gesangsverein original dasselbe macht. Am Geburtstag singen, durch die Stadt und durch die Dorfkneipen ziehen. Oder auch nach der Probe in der Dorfkneipe sitzen und dann ordentlich einen aufsingen. Unser Repertoire geht von 'Oh Champs Elisées' bis zu 'Freude schöner Götterfunken'. Im Moment machen wir 'Air' von Bach, das ist superspießig. Es sind nicht immer nur Popsongs. Den Gesangsvereinen wird nachgesagt, da gehen ja nur die alten Leute hin. Ich glaube schon, dass die genauso cool sein können."

Sandra Schwarz, Leiterin des Erlanger Kneipenchors

Es spricht sehr für Sandra Schwarz, dass sie so fair über die anderen Akteure im Feld des Gesanges spricht. Aber man kann sich natürlich vorstellen, dass neue Angebote, wie es die Kneipenchöre sind, es den etablierten Chören schwerer machen könnten, Mitglieder zu gewinnen. Wie sehr der Chorleiterin das Singen und ihre Gruppe am Herzen liegen, wird ganz schnell deutlich. Dieser Chor lebt von einem Miteinander, in dem es keinerlei Gewichtung gibt.

"Ich seh’ mich nicht wie der Ober-Guru, der vorne steht und den Leuten sagt, wie's geht. Natürlich von den Stimmen her und wie die Sätze funktionieren schon. Aber ansonsten sind wir so eine wabernde, demokratische Masse. Ich bin genauso wichtig, wie die Resi, wie die Anke, wie jeder andere in diesem Chor."

Sandra Schwarz, Leiterin des Erlanger Kneipenchors

Die Mitglieder kommen aus völlig unterschiedlichen Bereichen. Ob Akademiker oder Student, ob alt oder jung, flippig oder spießig, egal. Wichtig ist nur die Lust am Singen. Und man treibt nicht nur von Aufführung zu Aufführung, sondern man treibt gemeinsam durchs Leben. Der Erlangen Kneipenchor ist offen für alle und hat keine großen Einstiegshürden. Man kann sich sehr flexibel in und mit ihm bewegen, aber er ist doch mit einer gewissen Verpflichtung an die Teilnehmenden verbunden.

Massenkaraoke mit Live Musik

Ganz unverbindlich hingegen geht es zu bei Res Richter und David Saam, die ein Gesangsspektakel als Massenkaraoke mit Live Musik im Erlanger E-Werk veranstalten. Es ist kein Chor, was David Saam dort macht, aber eine ähnliche Spontan-Begegnung, wie wir sie auch schon beim Crowdsingen erlebt haben. Ein wesentlicher Unterschied liegt in der inhaltlichen Programmgestaltung, denn hier ist ein deutlich fränkischer Schwerpunkt nicht zu überhören. Es ist aber nicht nur das Fränkische. David Saam und Res Richter setzen stark auf den Kontakt zum Publikum, das am Ende ein Lied des Abends auswählt.

"Das letzte Mal war das ein außergewöhnliches Lied. Ein Lied, bei dem man nicht hat singen müssen, sondern bläken. Das ist eine niedrige Schwelle zum Einsteigen. Wer kann sich erinnern? Genau: 'Krawall und Remmidemmi'."

David Saam

Pure Begeisterung beim Kneipensingen

Auch wenn es sich erst mal so anhören mag, um Krawall geht es den beiden nicht. Ganz im Gegenteil: Die schönste Nebenwirkung ihres Kneipensingens liegt im sozialen Miteinander.

"Ich glaub', dass jetzt in den Zeiten, wo die Gesellschaft so auseinanderdriftet und so viel Hassbotschaften in den sozialen Medien kursieren und Hemmschwellen fallen, da ist es für die Leute sehr angenehm, wenn sie zum Kneipensingen kommen. An dem Abend bildet man ein gemeinsames soziales Gefüge. Und dann entwickelt sich so eine Interaktion im Publikum und alle haben ein wohliges Gefühl."

David Saam

Und dieses Gefühl äußert sich bei den meisten als pure Begeisterung.

Professionelle Unterstützung beim Singen

Dazu gibt es professionelle Unterstützung von Fachleuten mit Übungen. Eva Becher zum Beispiel hat sich lange Jahre im Münchner Kulturreferat um die Förderung der Volkskultur und besonders um das Singen gekümmert.

"In der Volkskultur gab's diese freien Singsituationen immer seit den 50er Jahren, aber diesen Singboom, den beobachten wir erst so seit fünf Jahren. Das formalisierte Singen, das Chöre pflegen, ist ja immer eine strikte, typisch deutsche Zwangsveranstaltung. Ich hab' mein Leben in Chören gesungen, aber von der Terminierung, von Proben, von Aufführungen, von Probenwochenenden: ein großes Engagement, das bringt der heutige Mensch nicht mehr so ohne weiteres her. Darum sind diese flexiblen Singsituationen natürlich viel besser handlebar für Menschen heute."

Eva Becher

Um dem ursprünglichen Singen wieder mehr Raum zu geben, hat Eva Becher eine ganz alte Technik.

"Das Jodeln eignet sich perfekt für Menschen, die keinen bayerischen Dialekt können. Für Menschen, die überhaupt nicht Deutsch können, denn es besteht ja nur aus Silben. Was Besseres gibt's ja gar nicht, dass man alle Kulturen verbinden kann. Nur durch silbengesungene Phrasen. Im Grunde kann jeder sofort mitjodeln, wenn er sich drauf einlässt."

Eva Becher

Musikmachen als Teil des Alltags – nicht nur für ausgebildete Sänger

Der Aspekt der fehlenden musikalischen Bildung ist von vielen erkannt und es gibt zahlreiche Initiativen und Persönlichkeiten, die sich vorgenommen haben, die Situation zu verbessern. Eine davon Ist Alicia de Banffy-Hall. Sie arbeitet an der katholischen Universität Eichstätt und forscht zum Thema Community Music.

"Bei Community Music geht's um Musik machen in der Gemeinschaft. Der Schwerpunkt in meiner Forschung und in meiner Praxis liegt im Musikmachen als sozialer Intervention. Mit dem Ziel, dass sich irgendwas bewegen will. Dem liegen meistens noch Grundwerte zugrunde, wie Inklusion, Partizipation, kulturelle Demokratie, Gleichwertigkeit der Musikformen. Das sind so Werte, die ganz oft in der Arbeit zu finden sind."

Alicia de Banffy-Hall, Forscherin

Kurz gesagt, geht es um das Lernen durch Musik und das Lernen von Musik. 

"Hier in Deutschland ist das für viele noch etwas Befremdliches. Das fängt jetzt langsam an sich zu ändern, dass Community Music als Teil und als Aufgabe gesehen wird. Ich glaube, das hängt zusammen mit den gesellschaftlichen Bewegungen, die wir insgesamt haben und die dazu führen, dass die Menschen jetzt mehr singen wollen und solche Initiativen aus dem Boden schießen überall. Auch glaube ich, dass die Menschen sich das wieder zurückholen in ihren Alltag, das Musikmachen. Singen einfach nur, weil's schön ist, weil's Freude macht. Und weg von: Ah, das ist nur für die, die's wirklich können und die, die ausgebildet sind."

Alicia de Banffy-Hall, Forscherin

"Jeder kann singen"

Ein typisches Beispiel dafür, was mit Community-Singen gemeint ist, findet man in München, in dem Projekt "Musik vor Ort". Es wird von Andrea Pancur geleitet und vom Kultur-Raum München e.V. und der Münchner Tafel realisiert. Hier geht es um soziale und kulturelle Teilhabe von Bürgerinnen und Bürgern in schwierigen Lebenslagen.

"'Musik vor Ort' ist entstanden dadurch, dass ich regelmäßig an der Lebensmittelausgabestelle von der Münchner Tafel vorbeigefahren bin und diese Horden von Menschen gesehen hab. Und mir gedacht hab, naja irgendwie kommen wir genau an die Leute nicht ran. Das sind definitiv einkommensschwache Menschen, aber weil oft sprachliche Mittel fehlen oder weil zum Teil auch das Geld für die telefonische Erreichbarkeit nicht gegeben ist, fällt genau diese Gruppe weg. Da hab’ ich mir dann gedacht, irgendwas muss man doch dann machen können."

Nikolaus Schön, Vorstand von KulturRaum München e.V.

"Alle dürfen mitsingen. Den Spruch, ich kann nicht singen, das ist das schlimmste, was einem Menschen passieren kann. Jeder kann singen. Und ich finde, hier in dem Chor, das klingt so schön."

Andrea Pancur, Leiterin 'Musik vor Ort'

Es klingt auch schön, weil es etwas in sich trägt von der Kraft einer Gemeinschaft, die sich als solidarisch, gleichwertig und kräftig erlebt. Weil sie ihre Stimme erhebt und sich Gehör verschafft. Ein durchaus politischer Vorgang.

Balkonkonzerte in Corona-Zeiten: Kraft durch Gemeinsamkeit

Es ist das Erleben der Kraft durch Gemeinsamkeit, der die spontanen Balkonkonzerte trägt, die im Angesicht der großen Viruskrise zuerst in Italien zu hören waren. Es ist die Kraft der Lieder, die Menschen seit Urzeiten Halt gegeben hat und vor allem in Zeiten der existenziellen Not gebraucht werden. Singen macht stark und glücklich. Nicht nur in Notzeiten.


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