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Sonja Lerch Die vergessene Heldin der Novemberrevolution

Vor hundert Jahren kam unter nicht ganz geklärten Umständen eine Politikerin zu Tode, die heute kaum jemand kennt: Sonja Lerch. Sie war neben Kurt Eisner die geistige Führerin der Novemberrevolution von 1918. Nach dem Scheitern der Massenproteste wurde sie verhaftet und am 29. März 1918 tot in ihrer Zelle im Gefängnis München-Stadelheim aufgefunden.

Von: Rainer Ulbrich

Stand: 17.10.2018 | Archiv

Sarah Sonja Rabinowitz | Bild: Christian Zimmer

Januar 1918: Tausende von Arbeiterinnen und Arbeitern der Münchner Munitionsfabriken streiken, um den Frieden zu erzwingen. Meistens wird der spätere bayerische Ministerpräsident Kurt Eisner als alleinige Hauptfigur der Massenproteste gesehen. In dem Buch "Der kurze Traum vom Frieden" beleuchtet der Münchner Autor Günther Gerstenberg die wenig beachtete Rolle der Frauen in der Revolution am Beispiel von Sarah Sonja Lerch, die im Vorfeld des Umsturzes bei den Munitionsarbeiterstreiks im Januar 1918 eine entscheidende Rolle gespielt hat.

Sarah Sonja Rabinowitz

Sarah Sonja Rabinowitz wird 1882 in Warschau geboren, das in dieser Zeit zu Russland gehört. 1905 beteiligt sie sich in Odessa an der Revolution. Nach dem Scheitern des Aufstands verlässt sie Russland und kommt nach Deutschland. Sie studiert in Gießen und heiratet dort den Romanisten Eugen Lerch, mit dem sie 1913 nach München zieht. 1917 tritt sie in die Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands ein, in der auch Kurt Eisner Mitglied ist. Die USPD hatte sich von der SPD abgespaltet und trat für einen sofortigen Frieden ohne Annexionen ein. Zwei Erfahrungen haben Sarah Lerchs politische Haltung geprägt, meint Günther Gerstenberg: die schlimmen Judenpogrome im zaristischen Russland und die blutige Niederschlagung des Aufstands in Odessa.

Verzerrtes Geschichtsbild

Sarah Lerch sprach im Januar 1918 auf zahlreichen Versammlungen – meistens gleich nach Kurt Eisner. Dennoch sind von ihr keine direkten Zitate überliefert.

"Wenn zum Beispiel bei einer politischen Versammlung ein Polizei-Informant mitstenographiert hat, dann hat er selbstverständlich die Rede des Kurt Eisner oder des Felix Fechenbach oder des Ernst Toller mitstenographiert. Wenn dann eine Frau sich zu Wort gemeldet hat, dann hat er das Stenographieren eingestellt und höchstens hingeschrieben: Und dann meldete sich eine Frau, die hysterisch irgendetwas gesagt hat."

Günther Gerstenberg

Vom Anteil der Frauen an der Novemberrevolution ist deshalb ein völlig falsches Bild entstanden. Der bayerische Schriftsteller Oskar Maria Graf, der selbst aktiv am Umsturz beteiligt war, schreibt:

"Frauen mit ausgemergelten Gesichtern, zerarbeiteten Händen und entschlossenen Augen. Sie waren eigentlich die Nüchternsten, die Mutigsten. Sie waren die ersten, die in München, in jenem grauenvollen Kriegswinter, die ersten Hungerdemonstrationen wagten."

Oskar Maria Graf

Mutige Frauen

Die Männer waren im Feld. In der Heimat mussten die Frauen dafür sorgen, dass der Krieg weitergehen konnte.  In den Munitionsfabriken drehten sie Granaten und füllten Patronenhülsen mit Sprengstoff unter äußerst gefährlichen Arbeitsbedingungen.

"Frauen mussten stundenlang anstehen, wenn sie Lebensmittel kauften, sie mussten zur Arbeit gehen, sie hatten ihre Kinder. Sie haben gemerkt, wie die offizielle Propaganda immer wieder beschönigt und sagt, es wird alles gut, es ist alles in Ordnung. Wir werden den Krieg gewinnen. Die Frauen haben also viel deutlicher gemerkt, dass es immer schlimmer und katastrophaler wird und haben gesagt, das stimmt nicht, was ihr hier behauptet. Die Wirklichkeit ist eine ganz andere."

Günther Gerstenberg

Selbstmord?

Sarah Lerch wird nach dem Scheitern des Januarstreiks verhaftet. Sie kommt zuerst in das Gerichtsgefängnis Am Neudeck, später in die Haftanstalt München-Stadelheim. Dort stirbt sie vor genau 100 Jahren, am 29. März 1918. Sie wird erhängt in ihrer Zelle aufgefunden. "Selbstmord" heißt es in dem knappen Bericht. Doch die genauen Umstände ihres Todes sind bis heute nicht geklärt. Es gibt keinen Obduktionsbericht und auch keine Hinweise auf eine gerichtliche Untersuchung.


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