Bayern 2

     

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Die letzten Briefe aus dem Ghetto Das Schicksal der Regensburger Familie Brandis

Nach ihrer Deportation in das Ghetto Piaski bei Lublin schickte die Familie Brandis aus Regensburg Briefe nach Hause. Sie sind eindrückliche Zeugnisse der Shoah. Thomas Muggenthaler ist ihrer Spur durch Archive gefolgt.

Von: Thomas Muggenthaler

Stand: 30.10.2021 | Archiv

"Mein Fannerl!
Mit dankbarer Freude erhielten wir heute Deinen lieben Doppelbrief der leider aber nicht mehr vollständig war aber auch mit den spärlichen Resten hatten wir eine große Freude wissen wir doch, dass ihr an uns denkt. Uns geht es den Umständen gemäß. Alles ist unerschwinglich teuer. Wir haben doch gar kein Geld etwas zu kaufen, besonders da bis heute weder Gepäck, noch Rucksäcke ankamen, können wir nichts kaufen oder vertauschen. Auch schwitzen wir mächtig in unseren warmen Sachen. Omimi hatte Lungenentzündung, nun liegt Vati sehr, sehr ernst (Angina), auch die beiden Kleinen waren ziemlich krank. Die beiden Großen arbeiten fleissig."

Brief von Alice Brandis, ohne Datum

Ein Brief, handschriftlich verfasst. Die Absenderin ist Alice Brandis. Sie schreibt aus dem Ghetto Piaski bei Lublin. Die polnische Stadt liegt zu dieser Zeit Teil im sogenannten Generalgouvernement, dem durch die Wehrmacht besetzten Teil Polens. Die Aktion Reinhardt diente Lublin als Hauptquartier. Der harmlos wirkende Tarnname stand für nichts anderes als die systematische aller Juden und Roma im Generalgouvernement. Die jüdische Bevölkerung Lublins wurde in ein Ghetto gezwungen, in dem bis zu 26.000 Menschen lebten.

Alice Brandis schreibt nach Hause und bittet Verwandte um Hilfe.

"Sehr erwünscht wäre Zahnkrem, Seife, Unterwäsche, Hemden, dünne Kleider für mich und Lotte (…) Brot legt keines mehr ein, es ist völlig verschimmelt (…) Auch Resi möchte (es) doch versuchen so wie meine Tante es mit dem Dörrgemüse gemacht hat. Grüße alle herzlichst von mir und sei herzlichst umarmt!"

Brief von Alice Brandis, ohne Datum

Der Text ist mit blauer Tinte auf sehr kleinem Papier geschrieben, eng, aber gut lesbar. Mit Bleistift fügt Alice Brandis an:

"Vergiss bitte nicht Seife, Tee, Stopfgarn, Strümpfe möglichst fest, Schürzen, nichts Kostbares nur derbe Sache und keinen Süßstoff und keine Margarine. Das nie ankommt."

Brief von Alice Brandis, ohne Datum

"Von der Schule in den Tod"

Ihre Tochter Charlotte Brandis hat einst das Mädchenlyzeum in Regensburg besucht, das heutige Von-Müller-Gymnasium. Michael Wabra hat als Lehrer die Biographien der jüdischen Schülerinnen erforscht und arbeitet auch nach seiner Pensionierung an dieser Thematik weiter. Auch, weil ihn dieser Brief so bewegt.

"Man liest etwas, was auf einen Schulblock geschrieben ist, mit Bleistift, das hat mich umgehauen, das haut mich heute noch um. Weil es auf einen Schulblock geschrieben ist und wenn man das alles verfolgt, was aus der geworden ist, dann sieht man: von der Schule in den Tod, so ist es", sagt Wabra.

Vor dem Haus Maximilianstraße 16 in Regensburg erinnern sechs Stolpersteine an Charlotte Brandis und ihre Familie. Das waren die Eltern Karl und Alice Brandis, sowie ihre vier Kinder, Charlotte, Werner, Rudolf und Paul. Keiner von ihnen hat die Shoah überlebt.

Die Maximiliansstraße, die von der Altstadt zum Bahnhof führt, war einst die Prachtstraße der Stadt. Den Familien Brandis und Holzinger gehörte das Haus Maximiliansstraße 16. Sie wohnten hier und führten von dort das Kaufhaus "Holzinger & Weiß".

Am 9. November 1938 ging auch in Regensburg die Synagoge in Flammen auf, wurden jüdische Geschäfte zerstört und Juden in das KZ Dachau verschleppt, auch Vater Karl Brandis. Die Familie muss das Haus verkaufen und das Geschäft aufgeben. Charlotte Brandis begann, nachdem sie die Schule verlassen musste, eine Ausbildung in Babelsberg bei Berlin, hat Michael Wabra recherchiert:

"Sie war dann schon 17 und hat eine Ausbildung in einem Alten- und Siechenheim in Babelsberg gemacht. Ihr Bruder war auch in Berlin. Dann kehrte sie wieder zurück, da konnte aber nicht mehr zu Hause wohnen, die Familie musste umziehen in ein sogenanntes Judenhaus in der Dechbettenerstraße und von dort wurden sie am 4. April 1942 in das jüdische Altersheim in der Weißenburgstraße gebracht."

"Die Zustände dort spotten jeder Beschreibung"

Danach geht es zum Bahnhof, wo die Regensburger Juden auf einen Transport aus München mit rund 1000 Menschen warten. Es werden weitere Waggons angehängt für Personen aus Städten wie Amberg, Weiden, Cham, Deggendorf, Straubing, Landshut und eben Regensburg. Mit dabei: Die Familie Brandis und Großmutter Gisela Holzinger.

"Sie hätte wahrscheinlich nicht in diesen Transport gemusst. Weil sie schon älter war, sie gehörte zu den Senioren. Aber wahrscheinlich wollte die Familie sie mitnehmen. Das Ziel war das Ghetto Piaski bei Lublin. Die Zustände dort spotten jeder Beschreibung", berichtet die Historikerin Sylvia Seifert.

"Die hygienischen Bedingungen waren sehr schlecht, das Ghetto war abgeriegelt vom Rest der Stadt, es gab keine Wasserkanalisation. Es waren primitive Holzhäuser, in die die Familien einziehen mussten. Wir wissen, dass die Koffer, die sie mitgenommen haben, das Gepäck, nicht mit angekommen ist, so dass die Menschen sich notdürftig bekleiden mussten mit Sachen, die sie auf dem Leib trugen."

Die vorherigen Bewohner waren bereits ermordet

Zunächst konnten die Deportierten noch nach Hause schreiben. Die Familie Brandis wandte sich meist an Ottmar Holzinger, den die Familie liebevoll "Ottl" nannte. Ottmar Holzinger und seine Frau Ella waren schon älter und mussten nicht in diesen Transport. Die andere Adressatin war Fanny Hartl, eine langjährige Mitarbeiterin. Mutter Alice Brandis bittet bereits gut eine Woche nach der Ankunft in Piaski darum, Essen zu schicken.

"Liebes Fannerl!
Du wirst von Onkel Ottl gehört haben, dass wir in Piaski einquartiert sind. Es geht uns soweit ganz gut, nur meine Mutter hat wieder eine Rippenfellentzündung. Es ist immer recht kalt und windig. Wenn Du uns öfters eingeschriebene Päckchen mit zusätzlichen Esswaren senden würdest, wären wir Dir sehr dankbar ... Zu deinem Geburtstag am 17. alles Gute."

Postkarte von Alice Brandis, 13. April 1942

Piaski war eine kleine Stadt im Südosten Polens. Die Deutschen richteten hier 1940 ein Ghetto ein, zunächst für die Juden von Piaski und Lublin. Die aber waren bereits ermordet, als deutsche Juden dorthin gebracht wurden. Den Deportierten fehlte es an allem. Sie bitten Verwandte und Freunde dringlich um Hilfe.

"Das muss ein furchtbarer Abstieg gewesen sein", erklärt die Historikerin Seifert. "Wenn man sich vorstellt, man lebt hier in einem Haus mit Strom, Gas, Telefon, man hatte ein Auto, man fuhr in den Urlaub, man besuchte Kunden in ganz Süddeutschland. Das war eine sehr angesehene Familie. Umso schwerer muss die Enttäuschung gewesen sein, nicht geschützt zu sein."

Die Verhältnisse in Piaski waren fruchtbar. Aber das Schlimmste war: Die Familie wurde getrennt. Tochter Charlotte Brandis schreibt an Ottmar Holzinger, an "Onkel Ottl".

"Sicherlich seid ihr schon lange ohne Nachricht von uns und um uns in Sorge. Seit 14 Tagen bin ich allein hier. Wohin die Eltern und Bruder und Großmutter gekommen sind, weiß ich nicht. Ich war in Arbeit und als ich abends kam, waren fast alle fort. Ich mache mir sehr viel Sorge um sie. Werner ist schon seit dem 1. Mai von uns weg und wir haben nichts gehört."

aus einem Brief Charlotte Brandis

Charlotte Brandis leidet an der Trennung von der Familie. In ihrer Verzweiflung bittet sie die Freunde daheim, den Kontakt zu ihnen herzustellen, den sie im Ghetto Piaski verloren hat.

"Von den Eltern habe ich nichts gehört. Du glaubst nicht, wie hart es ist, hier allein im Elend zu sitzen und nicht wissen, ob Deine Eltern noch am Leben und gesund sind. Ich habe heute zufällig die Adresse der 2 Lager erhalten, in die die Leute gekommen sein sollen. Da wir nicht schreiben können und dürfen möchte ich Dich bitten, zu versuchen eine Verbindung herzustellen. Schreibt, dass es mir gut geht und dass ich hiergeblieben bin, wie lange und ob wir bleiben können, wissen wir nicht, jedoch hoffen wir recht lang. (…) Der Brief ist auch für Ottl und Ella. Schreibe bitte auch an folg. Adresse, Johann Schuller, Weiden, Oberpfalz, Unterer Markt 14. Otto grüßt und braucht auch das gleiche."

aus dem Brief von Charlotte Brandis vom 24. Juli 1942

Am 8. September 1942 schreibt sie zum letzten Mal.

"Von den Eltern und Werner kann ich keine Nachricht erhalten. Ihr könnt Euch nicht denken, wie schlimm und nervenzehrend es ist, nicht zu wissen, wo man seine Liebsten suchen muss, wenn man nicht weiß, wie es ihnen geht, ob sie gesund sind oder überhaupt noch leben. Wir selbst sind ja hier auch nicht sicher, jeden Tag kann etwas passieren (…)"

aus dem Brief von Charlotte Brandis vom 8. September 1942

Das war der letzte Brief von Charlotte Brandis. Ihre Familie hat sie vermutlich nie wiedergesehen. Wann und wie sie gestorben ist, wissen wir nicht. Ein Großteil der Juden die nach Piaski deportiert worden sind, wurde im Vernichtungslager Sobibor ermordet.

"Sie hatte wahrscheinlich eine Arbeitskarte und hat vermutlich bei einem Bauernhof gearbeitet", vermutet Michael Wabra. "Jedenfalls konnte sie länger überleben als ihre Verwandten, die nach Sobibor geschafft worden sind. Weil sie ein ‚Arbeitsjude' war, konnte sie länger leben. Was genau passiert ist, weiß man nicht."

Sicher ist: die ganze Familie ist umgekommen.


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