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Campus Doku Müssen wir das Trauern neu lernen?

Über 70 Prozent der Deutschen sterben mittlerweile in Krankenhäusern und Altenheimen, nicht zu Hause - der Tod verschwindet immer mehr aus dem Alltag. Für den bewussten Umgang mit Verlust und Trauer scheint kaum noch Platz in unserer Gesellschaft.

Von: Anette Kolb

Stand: 30.10.2022 | Archiv

Tod, Bestattung, Schmerz und Erleichterung - Trauer. Die mit dem unwiederbringlichen Verlust eines Menschen verbundenen Gefühle sind universell. Unsere Lebensumstände und unser Verständnis von Zeit, Leben und Religion sind jedoch individuell: im Tod sind alle Menschen gleich, heißt es. Das bedeutet aber nicht, dass auch der Umgang mit dem Tod immer der gleiche ist. Im Gegenteil, von Religion zu Religion, von Kulturkreis zu Kulturkreis gibt es teils beträchtliche Unterschiede, wie Menschen mit dem Tod von Angehörigen umgehen. Und welche Rituale sie rund um das Eintreten des Todes begehen. Um den schmerzhaften und häufig langfristigen Prozess der Trauer zu bewältigen, haben Menschen über viele Generationen hinweg unterschiedlich kulturbezogenes Trauerverhalten entwickelt.

Doch unabhängig von unserer Kultur oder Religion – Abschied nehmen müssen wir alle von geliebten Menschen. Campus DOKU möchte herausfinden, ob es hierzulande noch eine Trauerkultur gibt, die uns den Umgang mit dem Tod erleichtert. Oder müssen wir das Trauern erst wieder erlernen, um mit dem endgültigen Abschied und Verlust umgehen zu können?

Trauerkultur im Wandel

Fest steht: Die Trauerkultur hierzulande ist im Wandel begriffen. Wenn es um den Tod eines nahestehenden Menschen geht, scheinen immer mehr Deutsche Schwierigkeiten zu haben, mit ihren Gefühlen und der Situation zurecht zu kommen. Sie wenden sich z.T. an professionelle Trauerberater, besuchen Trauerseminare oder versuchen den Trauerprozess ganz zu verdrängen. Einen Grund für die große Unsicherheit im Trauerverhalten sehen Forscher darin, dass Tod und Sterben heute in der Lebenswelt der Deutschen nicht mehr selbstverständlich dazu gehören: Angehörige sterben meist nicht mehr zuhause, die Lebenserwartung ist gestiegen und so kommen viele Menschen direkt mit dem Tod höchstens durch den Fernsehkrimi in Berührung. Gleichzeitig gibt es in Deutschland eine sehr lebendige Trauerkultur – bei Migranten. Bedingt durch ihren kulturellen und religiösen Hintergrund zelebrieren Orthodoxe, Juden und Muslime regelrecht ihre Totenfeiern und zeigen dabei eine lebendige Trauerkultur, die für Deutsche zugleich fremd und faszinierend ist. Muslime z.B. haben bestimmte Bräuche, wie sie mit Tod und Trauer umgehen - auch wenn sie als Migranten in Deutschland leben. Das Wissen über diese Bräuche wird in deutschen Krankenhäusern und Hospizen zunehmend wichtig: Immer mehr muslimische Gastarbeiter altern und sterben. Verlernen wir Deutschen also das Trauern während unsere Mitbürger mit Migrationshintergrund uns die vielfältige, lebendige Trauerkultur vorleben? Was können wir von ihnen über "echte" Trauer lernen?

Forscher beurteilen das heutige Trauerverständnis unterschiedlich. Während einige einen Verlust an Trauerkultur in Deutschland daran festmachen, dass die früher allgemein anerkannten christlichen Riten heute nicht mehr verbindlich sind, betonen andere gerade die Individualisierung der Trauerkultur, z.B. bei der Bestattung oder im Netz, positiv. Campus DOKU geht der Frage nach, wie sich die Trauerkultur in Deutschland gewandelt hat und wie sie durch die Einflüsse anderer Trauerkulturen, die durch Migranten hier gelebt werden, neue Impulse erhalten kann, sich mit Tod und Trauer besser auseinanderzusetzen.

Campus DOKU zeigt anhand konkreter Beispiele, wie persönlich Trauer heute von Menschen erlebt und wie individuell oder gemeinschaftlich sie gelebt wird: zu Hause, im Internet, in der Trauergruppe oder in der Moschee.

Abschiednehmen, Loslassen, den Verlust bewältigen

Bis zuletzt wollte Leonore Frischkorn nicht wahrhaben, dass ihr Mann sterben muss – sie wollten doch gerade erst den gemeinsamen Ruhestand genießen. Vor anderthalb Jahren hat sie ihren Mann nach kurzer schwerer Krankheit verloren. Die Trauer hat sie noch nicht überwunden. "Abschied habe ich genommen", sagt Leonore Frischkorn, "aber das Loslassen funktioniert noch überhaupt nicht." Ihre Familie und Freunde möchte sie nicht zu sehr belasten, außerdem hat sie, wie viele Trauernde, die Erfahrung gemacht, dass ihre Umgebung nicht immer mit der - oft langen - Trauerphase umgehen kann. Mittlerweile hat sie sich deshalb einer Trauergruppe angeschlossen. Von den anderen Trauernden fühlt sich Leonore Frischkorn verstanden und bekommt Denkanstöße von der Trauerbegleiterin Karina Kopp-Breinlinger. Die achtet darauf, dass die Mitglieder der Gruppe auch wieder lernen, allein zurecht zu kommen:

"Man hat als Trauerbegleiter nicht die Aufgabe, die gewichtige Rolle des Verstorbenen einzunehmen. Man muss eine Ethik haben, darf den trauernden Menschen nicht an sich binden und lange in der Gruppe halten wollen."

(Karina Kopp-Breinlinger, Trauerbegleiterin)

Was ist Trauer?

Die Trauer ist ein Gefühl, das sich einstellt, wenn der Mensch etwas Wichtiges verliert: einen nahestehenden Menschen, seine Gesundheit, den Arbeitsplatz oder die Heimat. Wer trauert, fühlt sich oft antriebslos, niedergeschlagen und unfähig, sich zu freuen. Der evangelische Theologe und Leiter des einzigen deutschen Museums für Sepulkralkultur in Kassel, Prof. Reiner Sörries, weist in seinem neuen Buch über die Kulturgeschichte der Trauer darauf hin, dass mit dem Wort Trauer einerseits die innere Gefühlswelt verbunden ist, im Englischen "grief", andererseits der soziale und kulturelle Aspekt des Trauerns, englisch "mourning".

So gehörte zur nach außen hin sichtbaren Trauerkultur bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts die besondere Kleidung: Witwen trugen ein Jahr lang schwarz, die lichtlose Farbe, die im westlichen Kulturkreis seit Jahrhunderten mit dem Tod verbunden ist. Trauerrituale entwickelten sich mit dem Brauchtum und mit der Religion. Normierte Verhaltensweisen wurden von Generation zu Generation weitergegeben. Heute bleibt der Umgang mit der persönlichen Erfahrung jedem weitgehend selbst überlassen. Die Trauer gilt als überwunden, wenn der Mensch seinen Verlust annehmen kann.

Trauertraditionen im Wandel

Der Münchner Bestatter Florian Rauch möchte Traditionen mit individueller Trauerkultur verbinden und rät den Angehörigen, von ihren Toten wieder ganz bewusst Abschied zu nehmen, auch am offenen Sarg. Dieser Brauch ist fast verschwunden, seit die meisten Verstorbenen nicht mehr zu Hause aufgebahrt werden.

"Wenn wir die Frage des Abschiednehmens stellen, sagen unsere Kunden oft, sie wollen den geliebten Menschen lebend in Erinnerung behalten. Aber einen Lebenden kann ich nicht gut bestatten, sondern nur einen Toten. Und dieses Bild des Toten brauche ich dazu, es wäre sehr wichtig, um loslassen zu können."

(Florian Rauch, Bestatter)

Die Aktionskünstlerin Bali Tollak hat sich mit der alten Tradition der Totenbretter auseinandergesetzt, die früher im Bayerischen Wald als Erinnerung an die Verstorbenen aufgestellt wurden. Sie zeigt heute ihre sogenannten "Seelenbretter" an ganz unterschiedlichen Orten in Deutschland und Europa, bemalt mit Symbolen und Sinnsprüchen aus verschiedenen Kulturen, die Menschen an ein Leben mit dem Tod erinnern sollen.

"Der Tod gehört zum Leben und nicht zu einer anderen Welt, und deshalb male ich auch das Diesseits. Und was noch dazu kommt: Nur die Lebenden können lesen und die Toten können’s nicht."

(Bali Tollak, Aktionskünstlerin)

Bei ihrer Trauerbewältigung suchen immer weniger Menschen heute in Deutschland Halt in der Kirche. Pastoralreferent Ulrich Keller, der für das Trauerpastoral des erzbischöflichen Ordinariats in München zuständig ist, sieht es ganz gelassen, dass die Kirchen nicht mehr alleiniger Ansprechpartner beim Umgang mit Tod und Trauer sind. Er ist Mitglied des Teams, das der Münchener St. Paulskirche einmal im Monat einen Gottesdienst für Trauernde gestaltet. Unabhängig von ihrer religiösen Überzeugung sollen hier alle in einem modernen, nicht traditionellen Ritual ihre Trauer teilen können. Die Kirche, meint er, kann sich heute im Markt der Möglichkeiten, auch in Konkurrenz zu kommerziellen Angeboten von Bestattern, behaupten – nicht nur, weil ihre Angebote kostenlos sind, sondern auch, weil die Kirchen Menschen in ihrer Suche nach Spiritualität, Zuspruch und Trauerbegleitung verlässliche Qualität bieten können.

Trauern in der Diaspora

Beeinflusst der Wandel der deutschen Trauerkultur auch die Trauertraditionen der Muslime, die größte religiöse Minderheit hierzulande? In der Gemeindeseelsorge begleitet die Vizedirektorin der Moschee in Penzberg bei München, Gönül Yerli, oft die Trauernden. Sie weiß, welchen Trost eine traditionelle Gemeinschaft bieten kann. Es ist das nicht Alleingelassen werden, sagt sie. Allerdings gehen einige Bräuche in der Diaspora mehr und mehr verloren, die Lebensverhältnisse lassen es nicht zu. Wenn ein Angehöriger stirbt, versammeln sich z.B. in der Türkei auch Muslime zum Totengebet, die den Verstorbenen nicht unmittelbar gekannt haben. Das ist hier kaum möglich.

Gönül Yerli ist in ihrer Arbeit oft damit konfrontiert, dass sich viele Muslime bis zum Todesfall nicht mit dem Sterben in Deutschland auseinandersetzen und nicht wissen, dass z.B. in Bayern Sargpflicht herrscht. Muslime werden aber in ihren Heimatländern traditionell nur in Tücher gewickelt bestattet, innerhalb von 24 h und nicht wie hier vorgeschrieben, frühestens nach 48 h.

Der islamische Münchner Bestatter Salih Güler erklärt die häufigen Überführungen von Migranten der ersten Generation vor allem mit diesen Hindernissen, die muslimischen Kulturen und Traditionen entgegen stehen, aber auch damit, dass viele Migranten eigentlich nur kurz bleiben wollten und Deutschland nicht als ihre Heimat empfinden. Als Migrantin der 2. Generation kann sich Gönül Yerli aber auch vorstellen, hier begraben zu werden, "denn hier beerdigt zu werden ist auch ein Bekenntnis zu diesem Land, in dem ich seit mehr als drei Jahrzehnten zuhause bin und ich möchte auch, dass meine Kinder nach meinem Tod einen Ort des Trauerns haben, der nicht 3000 km weit weg ist."

Trauerorte vom Friedhof bis zum Internet

Der Friedhof ist heute nur noch ein Trauerort unter vielen. Virtuell Kerzen anzünden und kondolieren: Das Internet ist für viele zum neuen Trauerort geworden. Wer sich schon zu Lebzeiten für seine Freunde unsterblich machen will, findet hier eine Plattform ebenso wie Menschen, die sich für verstorbene Prominente interessieren. Neben dem Informationsaustausch nutzen Trauernde das Netz vor allem, um bunte Gedenkseiten anzulegen - sehr oft Eltern früh verstorbener Kinder. Die private Trauer wird für alle sicht- und kommentierbar. Was sonst Datenschützer auf den Plan ruft, ist für Trauernde wertvoll: Das Netz vergisst nichts und so kann jeder Verstorbene "auf ewig" unvergessen bleiben. Einerseits ist Trauer heute etwas ganz Privates, andererseits ist es aber auch erlaubt, Trauer nach außen zu tragen, in die Öffentlichkeit. So nahmen 35.000 Menschen am Gedenkmarsch für den Fußballer Robert Enke teil, der sich 2009 das Leben nahm. Wenn viele Menschen um eine Person trauern, die sie nicht persönlich gekannt haben, bezieht sich die Trauer weniger auf die Person selbst als auf die mit ihr verknüpften Ideale, meinen Psychologen. Außerdem führen emotionale Medienbilder, z.B. nach dem Loveparade-Unglück, Menschen dazu, sich dem öffentlichen Trauergefühl anzuschließen.

Müssen wir das Trauern neu lernen?

Menschen erleben Trauer heute oft viel emotionaler und individueller als früher. Traditionen oder gesellschaftlich verordnetes Verhalten spielen praktisch keine Rolle mehr. Aber deshalb müssen wir nicht das Trauern neu lernen, sondern den Umgang mit der Vielzahl der Möglichkeiten zu trauern, meint Prof. Reiner Sörries.

"Angesichts der großen Vielfalt von Bestattungs- und Trauermöglichkeiten ist es heute komplexer geworden, sich im Markt der Möglichkeiten zurechtzufinden. Das hilft auf der einen Seite, Trauer heute individueller zu gestalten, macht es aber auch komplizierter, bis ich die Möglichkeiten und Konsequenzen durchdacht habe."

(Prof. Reiner Sörries, Theologe)

Literatur

  • Reiner Sörries: Herzliches Beileid. Eine Kulturgeschichte der Trauer. Darmstadt 2012
  • Nicole Rinder, Florian Rauch: Das letzte Fest. Neue Wege und heilsame Rituale in der Zeit der Trauer. München 2012
  • Dursun Tan: Das fremde Sterben. Sterben, Tod und Trauer unter Migrationsbedingungen. Hannover, 1998

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