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Campus Doku Gelingt die Flucht vor dem Lärm?

Ob Auto- oder Flugzeuglärm, die musikalische Dauerberieselung in Einkaufszentren, der Klingel-Terror von Handys in den U-Bahnen und Bussen – die Lärmquellen in unserer Umgebung nehmen zu – Lärm wird immer mehr zum Stressfaktor.

Von: Andrea Roth

Stand: 28.04.2021

Schon 15 Millionen Deutsche fühlen sich stark durch Lärm belästigt. Als Folge von Lärm können sich Menschen schlechter konzentrieren, Leistungsfähigkeit und Gedächtnis lassen nach – bis hin zu Gehörschäden und einem erhöhten Herzinfarktrisiko. Doch „Lärm“ lässt sich nicht nur in den 55 Dezibel berechnen, die der Gesetzgeber als Höchstgrenze für Umgebungslärm festgelegt hat. Wie sollen genaue Lärm-Werte festgelegt werden, wenn schon ein tropfender Wasserhahn oder die Absätze von Nachbarn manch einem den Schlaf rauben? Oft scheint nicht die Stärke der Geräusche, sondern die subjektive Wahrnehmung der Geräusche den Grad des Stresses zu bestimmen. Das zeigt sich z.B. am Donnern einer Brandung – es übertönt bei weitem den Lärm einer Straßenbahn, wird aber von vielen Menschen als angenehm empfunden.

Die Forschung der Psychoakustik nimmt sich solcher Widersprüche an und erforscht die Wirkung von Geräuschen auf den Menschen sowie deren subjektive Wahrnehmung. So ergeben zum Beispiel Forschungen der Psychoakustik der TU München, dass Geräusche verschieden wahrgenommen werden, wenn die Farbe eines Gegenstandes wechselt: Ein grüner ICE wird als leiser wahrgenommen als ein roter. Erkenntnisse wie diese machen sich die Sounddesigner der Unternehmen zunutze: Ein Sportwagen wird besser in rot als in grün verkauft, denn so wird er vom Geräusch her als „kraftvoller“ wahrgenommen. Auch die Psychologie und Philosophie spielt eine große Rolle bei der Beurteilung von „Lärm“: In einer Welt, in der jeder die Geräusche seines Nachbarn immer stärker hört – z.B. als Handygebrabbel im Bus – scheint die Sehnsucht nach Stille auch dem Wunsch zu entsprechen, Leben und Umgebung jederzeit selbst zu gestalten. Sich abkapseln, per Kopfhörer in die eigene Geräusche-Welt eintauchen, sich nicht berieseln lassen, sondern das eigene Schallprogramm zu wählen. So schreibt auch die Psychologin und Autorin des Buches „Nur im Weltall ist es wirklich still“, Sieglinde Geisel: „Des einen Musik ist des anderen Lärm“.

Fest steht: immer mehr Menschen sehen sich nach „der Stille“ und sind bereit, viel zu tun, um „Ruhe“ zu haben. Doch die Stille ist nicht weniger ambivalent als der Lärm. Dass wir sie nicht aushalten, merken wir erst, wenn sich die Sehnsucht erfüllt. So begleiten Geistliche die „Stille-Sucher“ bei ihrem „Urlaub im Schweigekloster“ und können davon berichten, wie angstvoll viele Menschen auf Stille und innere Geräusche reagieren. Viele Menschen können gar nicht ohne Geräusche leben, die für sie „Leben“ vermitteln – so etwa viele alleinstehende Menschen, die den ganzen Tag Fernseher und Radio laufen lassen, um sich nicht einsam zu fühlen. Doch ganz können wir dem Lärm nicht entfliehen: ob im Mutterleib (bis 80 Dezibel!), Natur, Wohnung oder Stadt – wir sind immer umgeben von Geräuschen. Und viele Menschen können gar nicht mehr ohne Geräusche leben, die für sie „Leben“ vermitteln – so z.B. Menschen, die sich gerne in das laute Nachtleben stürzen, ohne dies als laut wahrzunehmen.

Die Dokumentation erkundet die Welt des „Lärms“ und der „Stille“ mithilfe von wissenschaftlichen Erkenntnissen der Psychoakustik, Philosophie und Psychologie und zeigt Entwicklungen in der Forschung, die „Lärm“ erträglicher machen können. Sie begleitet dabei Menschen, die sich nach Stille sehnen und stellt die Subjektivität der Wahrnehmungen von „Lärm“ und „Stille“ vor: Wo und wie kann man sie finden?

Der Lärm – eine Definition

Das Wort „Lärm“ leitet sich von Alarm ab und das wiederum vom italienischen „al armes“ – „zu den Waffen“. Lärm löst beim Menschen eine Alarmreaktion aus. Unser Organismus geht auf Angriff, bzw. auf Abwehrhaltung.

Der Kampf um Grenzwerte und Begrenzung des Lärms

Obwohl sich der Lärmpegel gerade in den deutschen Städten in den letzten dreißig Jahren mehr als verdoppelt hat, gibt es bis heute zum Schutz der Menschen gegen Lärm keine einheitlichen Grenz- und Richtwerte. Weitestgehend orientieren sich die einzelnen Gesetze an den Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation. Danach sollten ein Lärmpegel von 55 Dezibel Tags und 45 Dezibel nachts nicht überschritten werden. Doch in der Realität sieht es oft anders aus: Bewohner an einer lauten Schnellstraße oder im Umfeld des Flughafens müssen bei einem nahenden Lastwagen oder landenden Flugzeug bis zu 80 Dezibel Lärm ertragen. Denn die Lärmbegrenzungen werden nur als Durchschnitt über den Tag verteilt errechnet.

Gesundheitliche Folgen des Lärms

Lärm setzt im Körper Stresshormone frei. Die Atemfrequenz und der Blutdruck steigen. Auf Dauer schwächt das das Immunsystem. Chronischer Lärm macht krank: Er trägt zu Schlafstörungen, Bluthochdruck, Diabetes, Asthma und Depressionen bei. Er erhöht sogar das Risiko für Schlaganfälle und Herzinfarkte. Das belegt auch eine Studie der EU-Kommission von 2011. Danach haben Anwohner von Flughäfen, die einem Dauerschallpegel von 40 Dezibel nachts ausgesetzt sind, häufiger Bluthochdruck und erleiden eher einen Herzinfarkt als Nicht-Anwohner.

Psychoakustiker suchen Lösungen gegen den Lärm

Prof. Dr. Hubert Fastl und seine Arbeitsgruppe Psychoakustik an der TU München machen „Sound-Engineering“. Sie sind unter anderem diejenigen, die die Geräusche von Staubsaugern, Waschmaschinen, Autos gestalten. Und Lösungen gegen Lärmbelästigungen suchen. Zum Beispiel haben sie herausgefunden, dass Menschen sich in Großraumbüros weniger gestört und abgelenkt von den Geräuschen anderer fühlen, wenn man zusätzliche Schalle in Klimaanlagen oder Lautsprecher einbaut, also die Störgeräusche mit gleichförmigen Geräuschen abmildert.

Die Suche nach Stille

Immer mehr stress- und lärmgeplagte Menschen suchen heute Ruheoasen und Auswege in Stille-Exerzitien, Räumen der Stille, Wanderungen im Schweigen und vielen ähnlichen Dingen. Der Markt für „Stille“- Angebote wächst unaufhörlich: In der Stille suchen die Menschen oft gar nicht - nur- die akustische Stille, sondern vor allem die Stille in sich selbst. Ein Innehalten in einer schnellen, reizüberfluteten Welt des Multitaskings, der high-speed-Kommunikation und langen Arbeitszeiten.

Wenn es außen still wird, so sagt ein Zen-Meister, geht „der Lärm im Innern los“. Und viele entdecken in den Stille-Stunden auch ein Stück neue „Langsamkeit“ und Aufmerksamkeit für die kleinen Dinge: Die Begegnung mit sich selbst, den eigenen Ängsten und Hoffnungen, denen sie sich in der Stille erst richtig stellen können.

Literaturtipps

  • Sieglinde Geisel: Nur im Weltall ist es wirklich still – Vom Lärm und der Sehnsucht nach Stille; Verlag Galiani Berlin, ISBN 978-3-86971-015-0
  • Pater Anselm Grün/Petra Altmann: klarheit, ordnung, stille. Was wir vom Leben im Kloster lernen können; Edition Gräfe und Unzer, München 2007, ISBN 978-3-8338-0537-0

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