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Gesundheit! Raus aus dem Glaskasten - Wie Autisten sich die Welt erobern

Sie haben Schwierigkeiten, sich in andere einzufühlen, treffen im Gespräch oft nicht den richtigen Ton. Sie meiden den Blickkontakt, haben Probleme mit dem „small talk“ – sind aber sehr engagiert, wenn es um ihr Spezialthema geht. Spätestens seit dem Film „Rainman“ mit Dustin Hoffman in der Hauptrolle, gibt es über Autisten viele Klischees. Rund 800.000 Menschen in Deutschland leben mit einer sogenannten „Autismus-Spektrum-Störung“, ein Handicap, das man auf den ersten Blick meist nicht erkennt.

Von: Tom Fleckenstein

Stand: 02.01.2023

Jeder Autist ist anders

Werner Kelnhofer, 68 Jahre alt, verheiratet und zweifacher Familienvater, arbeitete als IT-Fachmann. Heute ist er in Rente.

"Für einen Autisten ist seine innere Welt rund. Es ist dadurch für ihn manchmal unverständlich, wie seine Mitmenschen reagieren."

Werner Kelnhofer

Autismus-Strategie-Bayern

Kelnhofer engagiert sich ehrenamtlich bei der Entwicklung einer „Autismus-Strategie“ des Freistaats Bayern, um die Inklusion, die Teilhabe von Betroffenen in der Gesellschaft, zu verbessern. Maximal 20 Prozent der Autisten sind auf dem ersten Arbeitsmarkt beschäftigt.

"Inklusion heißt: dazu gehören, ohne Wenn und Aber. Autisten gehören nicht dazu, werden ausgegrenzt, teilweise nicht beschult, wenige haben einen Arbeitsplatz."

Werner Kelnhofer

Werner Kelnhofer hat das Asperger-Syndrom, benannt nach dem Wiener Psychiater Hans Asperger. Heute spricht man allgemein von Autismus-Spektrum-Störung.

Autismus-Spektrum-Störung: Diagnose

Eine Autismus-Spektrum-Störung ist eine komplexe, neurologische Entwicklungsstörung, deren Ursachen nicht völlig geklärt sind. Viele Autisten eignen sich Kompensationsstrategien an, um nicht aufzufallen und in sozialen Situationen besser klar zu kommen. Diagnosen erstellen psychiatrische Kliniken. Zum Beispiel die Autismus-Ambulanz in der psychiatrischen Klinik der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Werner Kelnhofer suchte erst mit 55 Jahren ärztliche Hilfe.

"Der Hauptgrund für soziale Schwierigkeiten ist wahrscheinlich die Mentalisierungsschwäche, die es bei Menschen mit Autismus-Spektrum-Störung gibt. Mentalisierung ist die Fähigkeit, menschliches Verhalten – also eigenes Verhalten und das Verhalten anderer Personen – zu verstehen und zu interpretieren, indem man mentale Zustände zuschreibt. Das können Wünsche sein oder Überzeugungen, die eine Person hat. Eine Fähigkeit, die dafür sorgt, dass sich diese Person so und so verhält. Diese Mentalisierung ist reduziert bei Menschen mit Autismus-Spektrum-Störung."

PD Dr. Dipl.-Psych. Christine Falter-Wagner, Leiterin der Autismus Ambulanz, LMU-Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie

Das Team in der Münchner Autismus-Ambulanz arbeitet an objektiven Kriterien für die Diagnose. Mit speziellen Armbändern werden unter anderem die Hautleitfähigkeit und der Herzschlag gemessen. Per Video werden Sprache, Gestik und Mimik analysiert. Normalerweise stimmen Gesprächspartner ihre Kommunikation zeitlich fein aufeinander ab und synchronisieren sie. Wenn man sich im Gespräch zunickt, bedeutet das zum Beispiel Zuwendung und Zustimmung. Autisten können solche Signale nicht ohne Weiteres lesen.

"Wenn eine Person mit Autismus-Spektrum-Störung an einer Interaktion beteiligt ist, gibt es in dieser Interaktion ein geringeres Maß an Synchronie zwischen den beiden Interaktionspartnern. Diese reduzierte Synchronie können wir messen, automatisch und objektiv messen, und daraus eine Diagnosevorhersage ableiten, wie wahrscheinlich ist es, dass jemand in dieser Interaktion eine Autismus-Spektrum-Störung hat."

PD Dr. Dipl.-Psych. Christine Falter-Wagner, Leiterin der Autismus Ambulanz, LMU-Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie

Autismus Selbsthilfegruppen

Um sich mit anderen Betroffenen auszutauschen und sich gegenseitig zu unterstützen, hat Werner Kelnhofer eine Selbsthilfegruppe gegründet. Ilona Dahlmann ist seit sechs Jahren dabei. Es gibt viermal so viele Männer wie Frauen unter den Autisten. Doch fallen Frauen oft weniger auf, weil sie das Handicap besser überspielen. In der Selbsthilfegruppe kann die 44jährige loslassen und so sein, wie sie ist. 

"Ich bin unter Menschen meiner Art, Menschen, die sozusagen das gleiche Betriebssystem haben wie ich, wenn man das Gehirn mit einem Computer vergleichen möchte. Seit ich seit 2013 die Selbsthilfegruppe besuche, ist mein gefühlter Leidensdruck von 90 % wie Schnee vor der Sonne geschmolzen."

Ilona Dahlmann

"Ich sag den Leuten ganz offen, dass ich anfangs Schwierigkeiten habe, small talk zu machen, dass ich vielleicht zu wenig Blickkontakt halte, dass ich von mir aus gerne lange Monologe übers Filmen halte, und nicht mitkriege, ob die Leute noch interessiert zuhören."

Kilian Sterff, 31 Jahre, Kameramann und Cutter

Anfang der 90er Jahre fällt seinen Eltern Gisela und Hugo Sterff das Spezialinteresse auf. Sie ahnen jedoch noch nichts von Autismus.

"Das war absolut skurril. Kilian hatte mit sieben den Wortschatz eines 15jährigen, konnte sich aber keine Schleife binden. Das waren Diskrepanzen, die uns völlig ratlos gemacht haben."

Gisela Sterff

Kilian Sterff entdeckte schon früh seine Filmleidenschaft, die er heute sogar zu seinem Beruf gemacht hat.

"Solange ich die Kamera vor dem Gesicht hatte, war ich selig, das war meine Welt. Die war brechenbar, greifbar und wiederholbar. Da konnte nichts schiefgehen."

Kilian Sterff

Im sozialen Miteinander hat Kilian jedoch ein Handicap. Gisela Sterff musste ihm beibringen, wie andere Menschen fühlen und ticken. Zum Beispiel durch das Anschauen von Filmen. Was andere intuitiv können, musste er sich hart erarbeiten. Kilians Berufswunsch steht früh fest: Er will Mediengestalter werden. Ein Beratungsgespräch bei der Bundesagentur für Arbeit bringt keinerlei Erfolg. Man meint dort, Autismus und ein Beruf in den Medien würden sich ausschließen. Denn da müsse man sehr stressresistent und flexibel sein.

"Dann haben wir diesen Satz gehört: „Autisten sind ja noch schwerer zu vermitteln als Epileptiker."

Gisela Sterff

Kilian Sterff und seine Eltern suchen daraufhin auf eigene Faust. 2008 bekommt Kilian dann tatsächlich einen Ausbildungsvertrag zum Mediengestalter bei der Arbeitsgemeinschaft für Behinderte in den Medien, ABM-Medien. Die Produktionsgesellschaft berichtet über Menschen mit Handicap. Dabei geht es vor allem um die Inklusion, die Teilhabe in der Gesellschaft. Kilians bevorzugtes  Medienprojekt nennt sich „TV Includo“. An Schulen in ganz Deutschland gibt Kilian seine Filmleidenschaft weiter und erzählt den Schülern seine Lebensgeschichte als Autist.

Zu wenig Therapieplätze

In der Autismus-Ambulanz im Augsburger Josefinum helfen Therapeuten autistischen Kindern und Jugendlichen. Die Bandbreite der Autismus-Spektrum-Störung ist extrem groß. Die meisten Patienten sind keineswegs hochbegabt. Autismus kann auch mit schweren geistigen Behinderungen einhergehen. 

Im Sozialkompetenztraining lernen Autisten, die Gefühle von anderen Menschen besser zu verstehen und die Perspektive zu wechseln. Ulrike Fröhlich ist Psychotherapeutin für Kinder- und Jugendliche und Leiterin der Autismus Ambulanz Josefinum Augsburg. 

"Da geht’s darum, dass ich mir eine Vorstellung davon machen kann, dass jemand anders denkt, anders fühlt, anders handelt, andere Gedankenkonstrukte, andere Absichten, andere Konzepte hat. Und dass ich mir vorstellen kann, dass jemand anderer in einer gleichen Situation anders fühlt als ich."

Ulrike Fröhlich, Psychotherapeutin für Kinder- und Jugendliche, Leiterin der Autismus Ambulanz Josefinum Augsburg. 

Apps in der Therapie

Die Therapeuten arbeiten auch mit Computer-Apps. Je früher das Training beginnt, umso besser. Es gibt aber derzeit noch zu wenig Therapiezentren in Deutschland. In Augsburg müssen Betroffene neun Monate für einen Vorstellungstermin warten.

"Man selber fühlt sich immer als normal, weil man es nicht anders kennt. Ich definiere mich in gewisser Weise als Nullpunkt. Alle anderen weichen davon ab."

Jason, 14 Jahre, Umweltaktivist, Buchautor und „Groundhopper“

Wie Greta Thunberg aus Schweden engagiert sich auch Jason bei den „Fridays for Future“-Demonstrationen. Angeblich mangelt es Autisten an Empathie, am Einfühlungsvermögen für andere Menschen. Doch Jason widerspricht und verweist auf sein Engagement.

"Dieses Klischee, Autisten können sich nicht in andere Leute hineinversetzen, ist ja das Gegenteil davon: Wir können uns in Milliarden Menschen hineinversetzen."

Jason

Seit 2011 ist Jason mit seinem Vater Mirco von Juterczenka als „Groundhopper“ unterwegs. Das heißt, die beiden versuchen, so viele Fußballspiele wie möglich zu besuchen. Sie nennen sich „Die Wochenendrebellen“. Doch Jason ist kein „normaler“ Fußballfan. Er betrachtet die Spiele aus seiner Perspektive und streng rational. Fan einer Fußballmannschaft zu werden – das ist für ihn keine Bauch-, sondern eine Kopfentscheidung. Auf der Suche nach seinem Lieblingsverein hat Jason eigene Spielregeln aufgestellt: Geht das Spiel unentschieden aus, muss das Team noch einmal besucht werden. Machen die Spieler vor Anpfiff einen Spielerkreis, ist das ein Ausschlusskriterium. Denn solche Berührungen sind für Autisten ein rotes Tuch.

Über 100 Stadien in Europa haben Jason und sein Vater schon gesehen. Über ihre gemeinsamen Erlebnisse haben sie ein Buch mit dem Titel „Wir Wochenendrebellen“ geschrieben. Aktuell beschäftigt sich Jason intensiv mit Physik. Besonders interessiert ihn der Urknall, aus dem das Universum entstand. Wenn man versteht, welch ein glücklicher Zufall die Entstehung der Erde war, meint Jason, dann setzt man sich vielleicht auch mehr für den Umweltschutz ein. Jason sagt:

"Autismus ist ein Bestandteil der Persönlichkeit, aber nicht der Mittelpunkt von allem."

Jason

Ausgewählte Buchtipps

Jason und Mirco von Juterczenka: Wir Wochenendrebellen: Wie ein autistischer Junge und sein Vater über den Fußball zum Glück finden. München: Goldmann 2019

Tony Attwood: Leben mit dem Asperger-Syndrom: Von Kindheit bis Erwachsensein – alles, was weiterhilft, Stuttgart: Trias Verlag 2012

Lorenz Wagner: Der Junge, der zu viel fühlte: Wie ein weltbekannter Hirnforscher und sein Sohn unser Bild von Autisten für immer verändern. Europa-Verlag 2018


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