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Türkei Vor dem Referendum

Es ist ein Ort für die Reichen und Schönen Istanbuls: Das wegen seiner atemberaubenden Aussicht auf die Stadt am Bosporus "360 Grad" genannte Restaurant. Hier pflegt man, sofern man es sich leisten kann, einen westlichen Lebensstil, trinkt Alkohol und mischt sich mit Touristen oder Geschäftsleuten aus dem Ausland.

Von: Michael Schramm

Stand: 26.03.2017 | Archiv

Skyline in Istanbul | Bild: BR

Doch: Es ist leer geworden auf Istanbuls vielleicht berühmtester Terrasse, und das nicht nur außerhalb der Öffnungszeiten.

"Die letzten zwei Jahre ging es stets abwärts: von 5000 Gästen pro Monat auf jetzt nur noch 1500!"

Mike Norman, 360°, Istanbul

Zumindest fürs erste sind die Zeiten vorbei, da die Türkei als das "China vor den Toren Europas" galt. Noch bis vor kurzem konnte man sich hier Jahr für Jahr über zweistellige Wachstumsraten freuen.
Fast ein Jahrzehnt lang hatte der Ministerpräsident und spätere Präsident Erdogan mit seiner islamisch-konservativen Regierung ein regelrechtes Wirtschaftswunder entfesselt. Mit neoliberaler Politik gelang es, das Bruttosozialprodukt des Landes zu verdreifachen. Doch seit gut einem Jahr verdient der "Tigerstaat Türkei" diesen Namen nicht mehr: Das Wachstum ist schleppend geworden, die Arbeitslosigkeit auf ein Rekordhoch geklettert und die türkische Währung, die Lira, hat deutlich an Wert eingebüßt. Für die Türkei ist das besonders schwierig, denn aufgrund der Altersstruktur ihrer Bevölkerung, mit sehr vielen jungen Menschen, ist sie auf hohe Wachstumsraten angewiesen. Selbst in besten Lagen wird die Krise sichtbar: Leerstände von Geschäften auch im Herzen Istanbuls.

Die seit nunmehr fast zwei Jahren unsichere Situation in der Türkei wegen häufiger Terroranschläge und Sorgen über den Fortbestand der Demokratie sind die Gründe dafür, dass immer mehr ausländisches Kapital abgezogen beziehungsweise nicht mehr investiert wird.

Dem Ausgang des Referendums am 16. April über die Einführung eines Präsidialsystems, das mehr Macht für Präsident Erdogan vorsieht, kommt dabei zentrale Bedeutung zu: sollte eine Mehrheit für "Ja" stimmen, würde das Europa zwar missfallen, könnte der Wirtschaft aber helfen, weil die Lage im Lande sich danach wahrscheinlich stabilisiert.

All das betrifft auch Deutschland: Schließlich ist die Bundesrepublik der wichtigste Handelspartner der Türkei. Fast 7000 Unternehmen mit deutscher Kapitalbeteiligung gibt es hier. 25 Milliarden wurden investiert.

"Deutschland, der größte Exportpartner aus dem Blickwinkel der Türkei und der zweitgrößte Importeur von Waren: jeweils um die zehn Prozent des gesamten Export- bzw. Importvolumens wird über Deutschland dargestellt!"

Jan Nöthen, Deutsch-Türkische Industrie- und Handelskammer

Bedeutsam für die deutsche Wirtschaft ist die Türkei zum Beispiel als Zulieferer von Autoteilen oder von Flachbildschirmfernsehern. Gilt doch das Land als "verlängerte Werkbank" Europas und insbesondere Deutschlands. Auch als Exportmarkt braucht die deutsche Wirtschaft die Türkei dringend: 78 Millionen, immer markenbewusstere Konsumenten, leben hier. Deutsche Produkte sind im Lande augenfällig und allgegenwärtig.
Die wirtschaftliche Abhängigkeit der Türkei von Deutschland ist im Bereich des Tourismus am größten. Kamen doch in den letzten Jahren die meisten Urlaubsgäste aus Deutschland. 2016 aber blieben viele bereits fern. Und: Für 2017 sieht es nicht besser aus.

Für die Türkei hängt also viel vom am 16. April anstehenden Entscheid ab – nicht nur politisch, sondern auch wirtschaftlich. So könnte zum Beispiel ein "Nein" das politische Klima zwischen der EU und der Türkei verbessern, wirtschaftlich aber – wegen der Gefahr weiterer Unruhe im Lande – nachteilig sein.

"Nach dem Referendum werden wir entscheiden, in welche Richtung wir weiter machen werden!"

Mike Norman, 360°, Istanbul

Ob das Restaurant von Mike Norman jemals wieder so gut besucht sein wird wie noch wenigen Jahren, als es für nahezu jeden Istanbul-Touristen ein Muss war, einmal hier gewesen zu sein? Der seit 17 Jahren in der Türkei lebende Südafrikaner will auf alle Fälle durchalten. Er hofft auf bessere Zeiten – wenn nicht morgen, dann übermorgen…


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