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Litauen Vilnius – Das Jerusalem des Nordens

Wenn man wissen will, wie die Sowjetunion auf dem jüdischen Erbe herumgetrampelt hat, muss man mit Amit Belaite auf Spurensuche gehen. Startpunkt ist der Sportpalast. Es ist eine Reise auf der Suche nach der verlorenen Zeit.

Von: Tilmann Bünz

Stand: 11.03.2018 | Archiv

Ehemalige Grabsteine | Bild: BR

Wenn diese Steine reden könnten wären wir plötzlich im Mittelalter:

"Hier war im 15. Jahrhundert ein jüdischer Friedhof. Im 20. Jahrhundert, in der Sowjetzeit, hat man die Steine abtransportiert und woanders benutzt, als Stufen wie diese hier. Und Leute liefen einfach darüber, rauf und runter."

Amit Belaite, Vorsitzende des Jüdischen Studentenbundes, Litauen

Amit Belaite

"Und dein Vater hatte dich gewarnt?" "Und mein Vater hat mich gewarnt: 'Tritt nicht auf diese Stufen!' Und ich habe mich gefragt: Warum?"

Es gibt eine Generation deren Wissbegier größer ist als der Schmerz. Und es weht ein neuer Wind durch Vilnius: Jetzt werden die Steine gesammelt – und wieder etwas in Ordnung gebracht. Niemand soll mehr auf jüdischen Grabsteinen herumtreten.

Vilnius ist eine Stadt der Denkmäler, und pflegt seine Heroen. Manche werden geehrt wie John Lennon, andere nicht erwähnt, obwohl sie oder ihre Ahnen von hier stammen: Man könnte sich fragen, warum Lennon von den Beatles, der nie hier war, so ein Denkmal kriegt, und andere wie Leonard Cohen und Bob Dylan, deren Wurzeln in Litauen liegen nicht vorkommen.

"Vilnius war immer eine Stadt der verschiedenen Kulturen, vor dem Zweiten Weltkrieg, die recht gut miteinander auskamen. Und wenn John Lennon singt, dass sich alle Leute in Welt vertragen sollen, dann passt das doch wunderbar hierher. Wenn die Beatles zu Einheit und Friedfertigkeit aufrufen, kann man das nur unterstützen. Doch die Frage ist schon richtig gestellt – nur leider weiß ich keine Antwort darauf."

Amit Belaite

Remigijus Simasius

Der Bürgermeister in seinem Büro, hoch über der Stadt, ist schon einen Schritt weiter. Er versucht ständig, Juden aus aller Welt zu einem Besuch in der alten Heimat zu überreden. Wir fragen: "Halb Hollywood stammt doch von hier. Und ihr früherer Kollege Michael Bloomberg – war er schon hier?"

"Noch nicht. Ich habe ihn im Juli getroffen. Viele, wie etwa auch Leonhard Cohen, hatten lange Zeit kein besonderes Interesse an ihren Wurzeln in Litauen. Ich hatte mit Leonard Cohen Kontakt – und hab ihn eingeladen. Aber erst wollte er nicht so recht. Als es dann konkreter wurde, starb er, leider. Bei Blomberg habe ich den Eindruck, dass seine Familie gerne käme, aber er selber sein intensives Leben lebt. Eines Tages wird er einen Termin finden und kommen. Da bin ich sicher."

Remigijus Simasius, Bürgermeister Vilnius

In allem liegt eine Wehmut und Sehnsucht, etwa wenn Amit durch das frühere Ghetto streift und in die Hinterhöfe schaut. Fast alle litauischen Juden starben, umgebracht von SS-Truppen und einheimischen Helfershelfern:

"Ich weiß nicht wer hier wohnte, vielleicht Deportierte oder Leute, die umgebracht wurden."

Amit Belaite

Die Fotos auf der Hauptstraße des früheren Ghettos wurden zwischen den Ruinen gefunden, Szenen einer besseren Zeit: Man sieht glückliche Menschen – und keiner weiß, ob so ein Leben jemals wieder nach Vilnius zurückkehrt.

Die einzige Synagoge, die noch in Gebrauch ist: Es reicht auch ein Gotteshaus, für die kleine jüdische Gemeinschaft. Während der Sowjetzeit überlebt es als Lagerhalle für Arzneien:

"Vilnius trug den Beinamen ‚Jerusalem des Norden‘. Wir waren mal 250.000 Juden, fast jeder zweite Bewohner von Vilnius war Jude und wir hatten mehr als 100 Synagogen. Jetzt sind wir noch 2500 Leute in der Gemeinde. Wenn wir uns heute in der Siemens-Arena mit 10.000 Plätzen versammeln, dann sieht sie immer noch leer aus."

Simas Levinas, Vorsitzender der jüdischen religiösen Gemeinde Vilnius

Amit hat für sich einen Weg gefunden, ihre Familie zu vergrößern, die so klein geworden ist: Großvater und Großmutter waren die einzigen Familienmitglieder, die den Holocaust überlebten, so dachte sie jedenfalls.

"Samstag habe ich die Ergebnisse meines Gentests bekommen, von Leuten mit einer ähnlichen DNA wie ich. Ich habe Cousins dritten Grades, Leute von denen ich nur den Nachnamen wusste, aber mehr nicht."

Amit Belaite

Sie blättert im Familienstammbaum. Dorf findet sie auch die Schwester ihres Großvaters, die, wie sie erst jetzt weiß, erst vor einem Jahr gestorben ist.


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