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Bosnien-Herzegowina 20 Jahre Massaker von Srebrenica

Mehr als 8000 moslemische Jungen und Männer wurden vor fast genau 20 Jahren von serbischen Paramilitärs in Srebrenica ermordet. Srebrenica gilt als das größte Massaker in Europa seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges.

Von: Till Rüger

Stand: 05.07.2015 | Archiv

Ein Knochen wird vermessen. | Bild: BR

Wenn Dragana Vucetic in ihrem Labor steht, bekommen die Toten von Srebrenica ihre Namen zurück. Die 34-jährige Serbin ist forensische Anthropologin in Bosnien-Herzegowina; sie untersucht menschliche Knochen.

Dragana Vucetic

Gemeinsam mit sieben Kollegen analysiert sie die Überreste aus anonymen Massengräbern, bestimmt deren Erbsubstanz und ermöglicht so die Identifizierung der Toten.

"Ich kenne die Menschen nur in Knochenform. Ich versuche zu trennen zwischen Anteilnahme und meiner professionellen Arbeit. Manchmal ist das sehr schwierig, vor allem wenn die Familien die Knochen im Original sehen wollen. Dann wird mir bewusst, dass sie wirklich einem lebendigen Menschen gehört haben."

Dragana Vucetic, forensische Anthropologin in Bosnien-Herzegowina

Der Kühlraum, gleich neben Dragana’s Labor, zeigt die ganze Dimension des Massakers von Srebrenica: Tausende Leichensäcke mit Skelettteilen lagern hier. Menschliche Überreste aus der ganzen Region werden im Zentralen Knochenlager der ICMP, der Internationalen Kommission für Vermisste Personen, in Tuzla gesammelt und zugeordnet.

"Ich hatte nie Albträume von der Arbeit. Manchmal ist es natürlich grauenhaft, wenn ich darüber nachdenke, dass hier über 8000 Skelettfragmente liegen. Mir geht es nur dann sehr nah, wenn es sich um junge Menschen handelt. Der jüngste war ein 13 Jahre alter Junge. Das nimmt mich dann schon mit."

Dragana Vucetic

Schon kurz nach dem Massaker hatten serbische Paramilitärs versucht, den Massenmord zu verschleiern. Viele der Toten wurden mit Baggern verladen, aus ursprünglich etwa zehn Massengräbern auf über 70 verteilt, sogenannte sekundäre Massengräber wie hier in Kamenica.

Arme, Beine oder Köpfe wurden dabei zum Teil an unterschiedlichen Stellen vergraben. Ein Puzzle aus menschlichen Überresten, das Dragan Vucetic nun wieder zusammensetzen muss.

Oft muss sie aus ein paar Knochen auf die Identität einer Person schließen. Möglich ist diese exakte Bestimmung nur dank standardisierter Analysemethoden.

Bida Osmanovic

Wie wichtige ihre Arbeit noch immer ist, zeigt ein Besuch bei Bida Osmanovic im Dorf Bratunac, auf halbem Weg zwischen Tuzla und Srebrenica. Sie sucht ihren jüngsten Sohn Faruk – bis heute. Der damals 22-Jährige schaffte es nicht mehr Srebrenica rechtzeitig zu verlassen. Wahrscheinlich starb er auf der Flucht durch die Wälder. Bida zeigt uns zwei Fotos: Vater und Sohn.

"Das auf dem großen Bild ist mein Sohn Faruk. Das Foto entstand kurz bevor, er vermisst wurde, kurz vor dem Fall von Srebrenica. Und das auf dem kleinen Bild ist sein Sohn, mein Enkel. Er war 17 Monate als ein Vater für immer verschwand. Dieses Foto ist alles was mir von meinem Sohn Faruk geblieben ist."

Bida Osmanovic

Bis heute hat Faruk Osmanovic keinen Grabstein, keinen Ort, an dem seine Mutter wie hier auf dem Gräberfeld von Srebrenica, dem großen Friedhof von Potucari, für ihn beten kann. Faruks Körper wurde nie gefunden.

"Ich wünsche mir so sehr, dass ein oder zwei Knochen meines Sohnes gefunden werden, dass ich dann zusammen mit meinem Enkelkind das Grab von Faruk besuchen kann. Ich hoffe, dass Gott es erlaubt, dass dieser Tag kommt."

Bida Osmanovic

Immer weniger Tote werden am Jahrestag des Massakers von Srebrenica am 11. Juli beigesetzt. Immer weniger Opfer können eindeutig zugeordnet werden.

Warum gerade sie als Serbin in Bosnien-Herzegowina die Knochen von bosnischen Muslimen untersucht? Das wird Dragana Vucetic immer wieder gefragt. Ob sie politische Motive habe? Ob sie sich schuldig fühle? Ob es eine Art Wiedergutmachung sei? Dragana verneint all das. Für sie ist die wissenschaftliche Herausforderung die eigentliche Aufgabe, den Toten ihre Würde zurückzugeben, egal ob es Serben, Kroaten oder Bosnier ist.

"Ich weiß, dass einige in Serbien alles leugnen, all das, was hier geschehen ist. Aber wir schaffen hier Fakten. Wir identifizieren die Menschen, wir haben exakte Zahlen darüber wie viel Tote bisher gefunden wurden. Ich denke die DAN-Proben und der Friedhof in Potocari zeigen das allen. Das ist Beweis genug."

Dragana Vucetic

Heute warten noch weitere Fälle auf Dragana Vucetic. Seit 2004 gehört sie zum Team der ICMP in Bosnien-Herzegowina, hat bisher mehr als 1500 Leichen oder Leichenteile identifiziert. Und nur so hat wieder eine Familie den Sohn oder den Vater, wenigstens im übertragenen Sinne, zurückbekommen.


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