BR Fernsehen - Film & Serie


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Hintergrund Statement des Regisseurs Christian Schwochow

Stand: 11.09.2012 | Archiv

Christian Schwochow | Bild: picture-alliance/dpa

Ich gehöre zu denen, die den "Turm" im ersten Anlauf "geschafft" haben - und zwar mit Begeisterung! Selten habe ich einen so starken Sog bei einem zeitgenössischen deutschen Roman empfunden. Emotional, spannend, manchmal sogar komisch. Das Sezierende, das genau Beobachtete - das hat mich gefesselt. In den Figuren und ihren Geschichten habe ich viel Wahrhaftiges über den Alltag in der DDR gefunden. Obwohl der spezielle Mikrokosmos, den der Roman beschreibt, neu für mich war.

Familienidyll: v.l.: Richard (J. J. Liefers), sein Sohn Christian (S. Urzendowsky) und seine Frau (C. Michelsen) mit Meno (G. Schubert)

Unglaublich, wie Uwe Tellkamp seine Figuren sprechen lässt. Unglaublich, wie er Bilder und Situationen erschafft, die den Stillstand und später das Aufbrechen einer Gesellschaft erzählen. In meinem ersten Film "Novemberkind" habe ich versucht, politische Dimensionen ins Private, in die kleinste Zelle der Gesellschaft, in die Geschichte einer Familie zu legen. Auch darum ist Tellkamps Erzählweise mir so nah. Er schafft es mit wenig äußerer Dramatik, fast ausschließlich über seine Figuren und ihre Konflikte, eine elektrisierende Spannung zu erzeugen - und erzählerische Größe.

Was dem Roman gelingt, war in erstaunlicher Verdichtung im Drehbuch zu finden. Mit wenigen Pinselstrichen schafft es Thomas Kirchner, die Atmosphäre, die Dimension und Sprachgewalt der Vorlage in Szenen und Bilder zu gießen. Das ist außergewöhnlich.

Christian Hoffmann versucht Jan Burre (D. Zillmann) zu helfen, der zusammengebrochen ist.

Aber warum interessiert mich diese Geschichte aus den 80er Jahren, obwohl ich selbst erst Jahrgang 1978 bin? Im Herbst 1989 war ich elf Jahre alt. Wir saßen auf gepackten Kisten. Meine Eltern hatten einen Hinweis bekommen: Der Ausreiseantrag konnte jeden Tag genehmigt werden. Im Schulunterricht stritten wir über die Demonstrationen, die allabendlich zu Treibjagden durch die Berliner Straßen wurden. Ich bin auf der Schönhauser Allee groß geworden - es passierte also vieles direkt unter unserem Balkon. Meine Lehrer verteidigten die Gewalt der Polizei, viele Mitschüler auch. Einige Väter waren selbst Polizisten. Eine seltsame Zeit: Mit elf Jahren bist du zu alt, dass die große Politik an dir vorbei gehen kann, aber zu jung, um sie zu verstehen. Keine Zeit hat mich stärker geprägt als diese.

Dann kam der 9. November. Die Freunde meiner Eltern sagten: "Wie könnt ihr jetzt gehen? Jetzt, wo all das möglich wird, wofür wir solange gekämpft haben?" Aber wir packten die Kisten nicht wieder aus. Wir zogen nach Hannover. Ich war der erste Ostler an der neuen Schule. Wenn über das System DDR geschimpft wurde, verteidigte ich das Land, das meine Eltern am Ende so abgelehnt hatten. Das mache ich noch heute. Manchmal.

Reina Kossmann (J. Busch) gesteht Christian ihre Gefühle.

Was bin ich heute - nach über 20 Jahren Einheit? Ein Gesamtdeutscher? Gibt es so etwas? Die Unterschiede zwischen Menschen in Ost und West werden nicht als Chance oder Geschenk - sie werden noch immer als Bedrohung empfunden. Wenn über die deutsche Geschichte nach 1945 berichtet wird, spricht man über die Geschichte Deutschlands und über die der DDR. Aber auch die DDR war Deutschland! Ich selbst denke gern an Ferienlager, Spreewaldgurken und all die lustigen Bräuche und Rituale zurück, aber die DDR war mehr. Nur was? Ein Land, so suggerieren Geschichten heute, das aus Stasi-Tätern auf der einen und Oppositionellen auf der anderen Seite bestand? Ja, bestimmt. Aber nicht nur. Wir sehen heute das Schreckliche und das Kuriose - oder wir vergessen einfach. Es entsteht ein Geschichtsbild, das irgendwann nicht mehr viel mit der DDR zu tun haben wird.

Anne Hoffmann (C. Michelsen) verlässt einen Empfang des Bezirkssekretärs Max Barsano.

Deshalb faszinierte mich eine Verfilmung von "Der Turm". Weil es eine Geschichte ist, die in vielen Abstufungen erzählt - nicht in Schwarz und Weiß. Die nicht verharmlost, aber trotzdem liebevoll auf ihre Figuren schaut. Und der es gelingt, was so schwer zu vermitteln ist: den Alltag der Menschen zu beschreiben - und ihr tägliches Ringen um eine Haltung.


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